Das Herz des Ritters
»Kommt, Zahirah, Ihr habt nichts zu befürchten.«
Abrupt hob sie den Kopf und stellte sich seinem Blick. Hatte er etwas Ähnliches nicht schon einmal zu ihr gesagt? Womöglich erst vor wenigen Stunden? Sie war sich dessen sicher; das leise beschwichtigende Flüstern klang ihr noch in den Ohren, und sie konnte förmlich spüren, wie sein Atem warm über ihre Haut strich, wohltuend, verführerisch …
Zahirah riss sich von ihren Gedanken los und stellte sich der Herausforderung seiner Nähe. Mit gerecktem Kinn blickte sie ihm geradewegs in die Augen. »Ich fürchte mich vor nichts, Mylord.«
Aus seinem Blick schloss sie, dass er anderer Ansicht war, dennoch neigte er zustimmend den Kopf. »Dann kommt, Mylady.«
Sie erhob keine weiteren Einwände und ließ zu, dass er ihre Hand ergriff und sie vor sich geleitete. Die Spitzen ihrer Sandalen waren nur eine Haaresbreite von der Dachkante entfernt. Sofort begann ihr Herz heftig gegen ihre Brust zu trommeln, jeder Muskel in ihrem Inneren spannte sich an. Mit allen Sinnen nahm sie die Gefahr und die Ehrfurcht gebietende Umgebung wahr.
Von diesem hohen Punkt aus bot sich Askalon als wahre Augenweide dar und erschien ihr paradoxerweise gleichsam riesig und winzig klein. Wie eine riesige Schale erstreckte sich die Stadt weitläufig bis zum Meer hin; dicht an dicht drängten sich Häuser, Straßen, Grünflächen und heilige Orte. Flache Ziegeldächer breiteten sich stufenförmig in einem wirren Auf und Ab in alle Richtungen aus, wie eine riesige Treppe, die keinen Anfang und kein Ende hatte. Die Menschen schwärmten, klein wie Ameisen, in einem steten Strom zum Markt und zu den öffentlichen Plätzen; das Gewirr ihrer Stimmen erhob sich über der Stadt zu einem nie enden wollenden Summen der Betriebsamkeit.
Zahirah hatte das Gefühl, über all dem zu schweben wie ein Adler im Wind und nahm die neuen Eindrücke und Geräusche begierig in sich auf. Nicht einen einzigen Augenblick lang fürchtete sie sich davor, in die Tiefe zu stürzen, denn Sebastians Arm lag fest um ihre Taille, und die Wärme seines starken Körpers gab ihr alle Sicherheit, die sie brauchte.
Auch wenn es sie in höchstem Maße beunruhigte, musste sie sich eingestehen, dass er ihr mühelos Halt gab, dass es sich selbstverständlich und richtig anfühlte, sich an seinen Körper zu lehnen, von ihm gehalten zu werden. Sein Atem streifte über die feinen Härchen in ihrem Nacken, und einen Augenblick schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie sie sich gemeinsam, einem Vogel gleich, hoch über die Wolken emporschwangen und die Sorgen und Erdenschwere der Welt unter sich zurückließen.
»Seht Ihr? Ihr könnt mir vertrauen«, murmelte Sebastian an ihrem Ohr. Das tiefe Brummen seiner Stimme sandte ein heißes Prickeln über ihren ganzen Körper. Er lachte, als ob er insgeheim wüsste, welche Wirkung er auf sie ausübte, doch als er schließlich das Wort erneut ergriff, klang seine Stimme ernst. »Es stellt sich jedoch die Frage, ob auch ich Euch trauen kann, Zahirah.«
Erschrocken hielt sie den Atem an. »Mylord?«
»Wollt Ihr mir nicht erzählen, was gestern in der Moschee vorgefallen ist?«
Sie prüfte, wie fest er sie umfangen hielt, und stellte fest, dass sein Griff beunruhigend unnachgiebig war. »Gestern ist eine schreckliche Tragödie geschehen, Mylord. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
»Erzählt mir die Vorkommnisse nur dieses eine Mal, danach werde ich euch nicht mehr damit behelligen.«
Offensichtlich hegte er die Absicht, sie erst gehen zu lassen, wenn sie ihm eine zufriedenstellende Antwort gegeben hatte. »Was wollt Ihr wissen? Es ging alles so schnell; ich weiß nicht, ob ich mich noch an alles erinnere«, meinte sie ausweichend und grub die Finger in Sebastians Arm, der sie wie eine Fessel an seinen Körper band. Vor ihr tat sich der Abgrund auf. Sie war gefangen, stand zu nahe am Rand, fühlte sich hilflos. Zu sehr fürchtete sie die Macht des Mannes, der für das Gefühl dieser Hilflosigkeit verantwortlich war. »Bitte!«, stieß sie hervor. »So kann ich nicht nachdenken. Lasst mich sofort los, ich bitte Euch.«
Er gab einen unwirschen Laut von sich, aber er hob sie hoch und setzte sie ein paar Schritte entfernt von der Dachkante wieder ab. Nun bestand zwar nicht länger die Gefahr eines Absturzes, doch wenn sie geglaubt hatte, sie würde sich mitten auf der Dachterrasse sicherer fühlen, hatte sie sich getäuscht. Sebastian stand ihr nun direkt gegenüber, und sie
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