Das Herz des Ritters
wich an die Palastmauer zurück. Sie kam sich vor wie in einer Falle, denn sein brennender Blick und seine stattliche Größe verwehrten ihr die Flucht vor ihm und seinen Fragen.
»In England, Mylady«, sagte er sehr ruhig und stützte die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes ab, »ist es üblich, dass ein Vasall, der sich unter den Schutz seines Lords begibt, ihm den Treueschwur leistet. Er schwört, das Vertrauen seines Herrn in höchsten Ehren zu halten und niemals zu missbrauchen. Dieser Schwur ist heilig – so heilig wie ein Ehegelübde –, denn im Gegenzug verpflichtet sich der Lord, für seinen Vasallen zu sorgen und für ihn seinen Schweiß, sein Blut, ja sogar sein Leben zu opfern.«
Sie wollte seine Rede mit einer spöttischen Bemerkung an sich abprallen lassen, doch die Stimme versagte ihr, und ihre Worte glichen eher einem Flehen. »Der Schwur eines Muslimen ist ebenso bindend wie der eines Engländers, Mylord.«
Er hob die Brauen. »Das freut mich zu hören, und ich nehme Euch beim Wort, Mylady. Ich will die Wahrheit von Euch hören. Die ganze Wahrheit. Was ist gestern geschehen? Ihr habt jemanden in der Moschee getroffen – einen Mann. Ich verlange, dass Ihr mir seinen Namen nennt.«
Zahirah blinzelte nervös. Sie war sich sicher, dass er ihr die Schuldgefühle vom Gesicht ablesen konnte. Rasch ließ sie in Gedanken die Geschehnisse des Vortages noch einmal an sich vorüberziehen, um festzustellen, wie groß das Risiko ihrer Entlarvung war. Wie viele Menschen hatten sie wohl mit Halim gesehen? Hatte jemand ihren Streit gehört oder war gar Zeuge der Auseinandersetzung geworden, die zu Abduls Tod geführt hatte? Sie wusste nicht genau, was Sebastian von dem Vorfall bereits in Erfahrung gebracht hatte, doch sie war entschlossen, alles abzustreiten. »Es waren viele Leute beim Freitagsgebet, Mylord. Soll ich mich etwa an alle erinnern?«
»Nur an den einen«, erwiderte er. Sein steter Blick war eine Spur zu durchdringend, seine Stimme einen Hauch zu höflich, um sie in Sicherheit zu wiegen. »Wenngleich auch Tausende Menschen in der Moschee gewesen sind, so hat doch nur einer Abdul kaltblütig ermordet. Seinen Namen will ich wissen, Zahirah.«
Sie wand sich unter seiner Musterung; es fiel ihr schwer, Ahnungslosigkeit vorzuschützen, wenn er sie so prüfend ansah. »Sebastian, bitte. Ihr stellt mir Fragen, die ich nicht beantworten kann …«
»Könnt Ihr nicht oder wollt Ihr nicht?«, fragte er herausfordernd.
Sie erkannte die Gefahr, die in ihren ausweichenden Antworten lag, gewahrte, wie er unmutig die Nasenflügel blähte und sich eine steile Falte auf seiner Stirn bildete, ein Zeichen für den herannahenden Sturm, der zweifellos bald über sie hereinbrechen würde. »Ich … ich würde es Euch sagen, wenn ich könnte«, stammelte sie. »Ich wünschte, ich könnte Euch sagen, was Ihr wissen wollt, und Euch eine größere Hilfe sein.«
Sebastian wirkte nicht überzeugt. Forschend sah er ihr in die Augen. Sein Gesicht war ihrem so nahe, dass sein Atem über ihre Stirn strich. »Soll das heißen, Ihr habt den Mann nicht gekannt? War es ein Fremder?«
Sie nickte und senkte den Blick. »Das soll es heißen, ja.«
Er stieß einen knurrenden Laut aus. »Zeugen haben mir den Mörder beschrieben. Würde es Euch überraschen zu hören, dass er Eurem Bruder ausgesprochen ähnlich zu sehen scheint? Fürchtet Ihr Euch vielleicht, mir einzugestehen, dass er in diese Sache verwickelt ist?«
Zahirah dachte an die Lüge, die ihr Zugang zum Lager der Kreuzfahrer verschafft hatte, die Unwahrheit, die sie in Sebastians Augen zu Halims Schwester gemacht hatte. »Abdul ist nicht von meinem Bruder getötet worden.« Die Ironie dieser Feststellung entlockte ihr ein verbittertes kurzes Lachen.
»Seid Ihr Euch dessen sicher?«
»Ja«, sagte sie, doch die Antwort hinterließ einen unangenehmen Geschmack auf ihrer Zunge.
»Im Hof der Moschee, Mylady, habt Ihr mir gesagt, Abdul hätte versucht, Euch zu beschützen. Vor wem zu beschützen – vor diesem Fremden? Einem Mann, den Ihr nicht kennt und der Euch grundlos auf dem Weg zur Moschee belästigt hat?«
Sie zögerte mit ihrer Antwort, nahm sich Zeit, das Lügengespinst zu überdenken, in das sie sich selbst verstrickt hatte. Sie durfte keine Reue für ihr Handeln empfinden und auch kein Mitgefühl für Sebastians ermordeten Freund. Sie musste kalt und gefühllos sein, doch das war sie nicht. Bei Allah, sie fühlte sich elend bei dem Gedanken, was sie
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