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Das Herz des Ritters

Das Herz des Ritters

Titel: Das Herz des Ritters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lara Adrian schreibt als Tina St. John
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kitzelte ihre Knöchel. Trotz der Wärme des Morgens fröstelte sie.
    Kaum ein halbes Dutzend Schritte trennte sie nun noch von dem Vorsprung, auf dem Sebastian stand. Die breiten Schultern und das dunkle, vom Wind zerzauste Haar von einer Wand blauen, wolkenlosen Himmels umrahmt, wartete er auf sie, ohne sie aus den Augen zu lassen. Zahirahs Blick schweifte von seinen herausfordernd gehobenen Brauen zu seinen fast unmerklich zusammengepressten Lippen, die ihr verrieten, dass er ihr Unbehagen ahnte.
    Vielleicht legte er es sogar darauf an, sie einzuschüchtern.
    Dieser Gedanke stachelte sie an. Bemüht, ihre Unsicherheit zu verbergen, reckte sie das Kinn und überquerte die Terrasse. Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie sich dem Rand näherte. Ihr wachsamer Blick ruhte auf Sebastian, der sich inzwischen umgedreht hatte und über die vor ihm liegende Stadt zum Horizont schaute.
    Sie musste nicht erst über die Dachkante sehen, um zu wissen, was darunterlag. Fünfzig Fuß unter ihnen erstreckte sich der große Palasthof mit seinen Bogengängen und plätschernden Marmorbrunnen. Bis zur hintersten Ecke war er mit hartem, gnadenlosem Stein gepflastert. Ein unbedachter Schritt, ein Ausrutschen und …
    Sebastians sonore Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Als ich ein kleiner Junge war, bin ich mit meinem Vater zu Hause in England auf den höchsten Turm unserer Burg in Montborne gestiegen, um mich am Anblick der Hügel und Wiesen unseres Anwesens zu erfreuen. Mein Vater hob mich auf die Mauer und sagte, ich solle mich so weit wie möglich vorlehnen. Ich atmete die Luft tief ein und betrachtete das Land, das eines Tages mir gehören würde, während er mich um die Hüfte fasste und hielt, damit ich nicht in die Tiefe stürzte.«
    »Ihr Engländer habt ein seltsames Verständnis von Vergnügen«, erwiderte Zahirah in scherzendem Ton, doch sie konnte sich leicht vorstellen – und fand es in gewisser Weise sogar liebenswert –, dass er einst ein waghalsiger Junge gewesen war, ein Wildfang mit kohlrabenschwarzem Haar, der in wildem Lauf die Treppe eines Burgturms hinaufstürmte, nur um sein Gesicht in den heulenden Nordwind zu halten. Und der Mann, der nun neben ihr stand, schien diese Neigung immer noch zu besitzen. Sie krauste die Stirn und tadelte sich insgeheim dafür, dass sie ihm – dem Kind von einst und dem Mann von heute – Bewunderung zollte.
    »Es ging weniger um Vergnügen als um Vertrauen«, entgegnete er und wandte sich ihr zu. »Als Kind hatte ich schreckliche Höhenangst, müsst Ihr wissen. Mein Vater erkannte, wie sehr mich dies bedrückte, und lehrte mich, mich meinen Ängsten zu stellen und sie zu bezwingen. Jeden Morgen stieg er mit mir den Turm hinauf und versprach mir, mich nicht fallen zu lassen. Ich habe darauf vertraut, dass er sein Versprechen hielt.«
    Eine Taube flog von irgendwo auf; heftig schlug sie mit den grauweißen Schwingen, erhob sich über die Dächer und wandte sich der in Sonnenlicht getauchten Stadt zu. Zahirah sah dem Vogel nach, bis er außer Sichtweite war, dankbar für den Vorwand, Sebastians eindringlichen Blick meiden zu können.
    Sie dachte an all die Spiele, die sie während ihrer Kindheit in Masyaf gespielt hatte – die kräftezehrenden Übungen, die sie stärker machen sollten, die schonungslosen Lektionen, die ihr den Willen eingepflanzt hatten, jede Herausforderung anzunehmen. Gewiss hatte sie in ihrer Kindheit einige Ängste ausstehen müssen, doch niemand hatte ihr geholfen, sie zu überwinden, nicht einmal ihr Vater. Raschid ad-Din Sinan betrachtete Furcht als ein Zeichen von Schwäche, und Schwäche gestattete er nicht.
    Zahirah hatte selbst zurechtkommen müssen, und es war ihr gelungen. Schon früh hatte sie begriffen, dass sie auf niemanden vertrauen konnte außer auf sich selbst. Das machte das Leben in gewisser Weise auch leichter, denn mit dieser Einstellung war es nahezu unwahrscheinlich, sich in anderen zu täuschen – und sie schützte sie weitgehend davor, von anderen verletzt oder enttäuscht zu werden.
    Sie war so tief in ihren bitteren Erinnerungen versunken, dass sie nicht bemerkte, wie Sebastian die Hand nach ihr ausstreckte, und erst zu ihm aufsah, als sie die Wärme seiner Finger auf ihrem Arm spürte. »Kommt, stellt Euch zu mir.«
    Sie wich leicht zurück und schüttelte den Kopf. »Ich ziehe es vor, einen sicheren Abstand zu wahren.«
    »Zur Dachkante oder zu mir?«, fragte er. Ein freches Schmunzeln zupfte an seinen Mundwinkeln.

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