Das Herz des Südens
Donnerstagabend tastete sich Cleo durch die Finsternis voran. Nur ein paar Sterne waren am Himmel zu sehen. In der Tasche hatte sie einen Klumpen Wachs, mit dem sie die Glöckchen verstopfen wollte, was ihr auch gelang, während der alte Sam und seine Enkel ruhig weiterschliefen. Jedenfalls schien es so, bei Sam war sie sich nicht ganz sicher. Er lag ganz ruhig auf seiner Pritsche, so ruhig, dass man ihn nicht einmal atmen hören konnte. Aber es war eigentlich auch nicht so wichtig, denn Sam würde Remy niemals an LeBrec verraten.
Als sie sicher war, dass die Glöckchen nicht mehr zu hören waren, ging sie mit Remy aus der Hütte in die kalte, feuchte Nacht hinaus. Sie schlichen sich zwischen den Unterkünften hindurch zum westlichen Rand der Plantage, wo Phanor und Louis im Wald auf sie warteten.
»Hat euch auch keiner gesehen?«
»Glaube ich nicht«, antwortete Remy. »Der Aufseher jedenfalls nicht, und die anderen verraten uns nicht.«
»Na gut, dann gehen wir jetzt Louis hinterher.«
Durch das Blätterdach waren ein paar Sterne und eine dünne Mondsichel zu sehen, aber es war doch so dunkel, dass sie ständig über Baumwurzeln stolperten. Remy geriet ein paar Mal aus dem Gleichgewicht, wenn Äste an seinen Käfig stießen, und Phanor legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn notfalls halten zu können.
Als sie sich dem Sumpf näherten, verstummten die Zikaden und Frösche. Sie konnten nur noch die Zugvögel hören, die hoch über ihnen flogen, und im Unterholz raschelte irgendein Tier. Einmal erschrak Cleo, als sie in die funkelnden Augen eines Waschbärs blickte, der nur zwei Meter von ihnen entfernt saß. Sie war froh, dass sie kein Stinktier aufgeschreckt hatten.
Louis führte sie zu einer Erhebung über dem umgebenden Sumpfland. Drei Meilen, Tausende von Eichen, Tupelos und Zypressen lagen jetzt zwischen ihnen und Toulouse. Louis zündete seine Laterne an und hielt sie hoch. Zum ersten Mal konnte er jetzt das eiserne Monstrum sehen, das Remy auf seinen Schultern trug. Er war ehrlich erschrocken.
»Das ist ja unmenschlich!«, sagte er.
»Eben«, entgegnete Phanor trocken. »Cleo, hol dein Werkzeug raus.«
Remy setzte sich auf den Boden, und Phanor hielt die Laterne, sodass eine Insel aus Licht in der dunklen, nassen Waldlandschaft entstand. Cleo holte eine dünne Klinge aus ihrer Tasche. Es war kein Schlüssel, aber der Schmied hatte ihr erklärt, wie sie mit der Klinge und der kleinen Erhöhung an der Spitze das Schloss aufbekommen konnte.
Cleo sprach ein schnelles Gebet und bekreuzigte sich, bevor sie mit der Arbeit begann. Sie führte das schmale Werkzeug ins Schlüsselloch ein und drehte es vorsichtig, aber nichts geschah. Sie drehte es in die andere Richtung, aber das Schloss rührte sich nicht. Der Schmied hatte sie gewarnt, wenn sie zu stark drehte und Gewalt anwandte, würde die Erhöhung auf der Klinge abbrechen. Geduld, ermahnte sie sich selbst. Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Dann probierte sie es noch einmal, versuchte die richtige Stelle zu erspüren, stellte sich die Klinge als Verlängerung ihrer Finger vor.
»Vielleicht müssen wir doch den Meißel nehmen«, sagte Louis.
»Lass ihr Zeit«, antwortete Phanor.
Ein Opossumweibchen paddelte an ihnen vorbei, zwei Junge auf dem Rücken. Es tat so, als wären die Menschen und das Licht gar nicht da, und suchte sich einen Baum, um hinaufzuklettern.
Besorgt sah Cleo Phanor an. Er nickte, um ihr Selbstvertrauen zu stärken, und sie führte die Klinge noch einmal ein. Dann zog sie sie eine Winzigkeit zurück, sodass die Spitze nicht mehr die Rückwand des Schlosses berührte, und drehte wieder. Und tatsächlich, die Erhöhung glitt an die richtige Stelle. Sie hielt die Luft an und drehte die Klinge. Langsam und vorsichtig. Noch ein Stückchen weiter.
In dem angespannten Schweigen erschraken sie alle, als das Klicken im Schloss zu hören war. Dann lachte Cleo laut heraus.
»Gut gemacht!«, lobte Phanor sie. Er reichte die Laterne an Louis weiter und kniete sich neben Remy, um das Halsstück des Käfigs zu öffnen. Dann hielt er die schwere Vorrichtung fest, während Remy die Riemen löste, die er angebracht hatte, um besser im Gleichgewicht zu bleiben. Und schließlich ließ Remy seine Schultern aus den Befestigungen gleiten und zog den Kopf vorsichtig heraus. Zum ersten Mal seit Monaten war er frei von dem Gewicht, von der Demütigung, von allen Schrecken der eisernen Falle.
Er sprang auf die Füße und hob die Hände
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