Das Herz des Werwolfs (German Edition)
sich hin und ignorierte die neugierigen Blicke der Passanten – was, noch nie eine Frau in Uniform mit schlechter Laune erlebt? – und stieß die Tür zum Schnapsladen auf. Wie so viele der ortsansässigen Geschäfte hatte der Laden in letzter Zeit sein Angebot erweitern müssen, um sich über Wasser halten zu können. Man hatte eine kleine Ladenzeile eingerichtet, in der es verdammt guten Kaffee zur Selbstbedienung gab.
Als sie durch die Tür trat, warf sie automatisch einen Blick in den gewölbten Spiegel an der Decke, der den Kassenbereich zeigte und hinter dem sich eine Überwachungskamera versteckte.
Sie erstarrte, als sie Benz nicht vor, sondern hinter dem Tresen stehen sah, die Hände in die Luft gestreckt, den Lauf einer Pistole vor der Nase. Die Studentin kauerte hinter ihm, hatte die Augen geschlossen und beide Hände auf die Ohren gepresst. Dann sah Reda vom Spiegel zum Tresen und merkte, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
In dem kurzen Moment, den der Täter brauchte, um sie zu bemerken, die Augen aufzureißen und zu brüllen, sie solle die Waffe fallen lassen und sich auf den Boden legen, hatte ihr Gehirn die Szene wie einen Schnappschuss aufgenommen – mögliche Schusslinien abgeschätzt, geeignete Verstecke und die Position der drei anderen Menschen im Laden. Sie stellte sich sofort vor, wie sie so tat, als würde sie seinen Befehl befolgen, sich stattdessen aber gegen das Regal warf, sodass es auf den Täter fiel, sah, wie Benz über den Tresen sprang und den Kerl festnahm. Es war Ausbildung, Planung und Instinkt, alles zusammengenommen. Und es geschah ausschließlich in ihrem Kopf.
In Wirklichkeit stand sie einfach nur da.
„Runter!“ Der Täter sprang einen Schritt zurück und richtete seine Waffe von Benz auf sie. Als sie die Panik in seinen Augen sah, wusste sie, dass sie reagieren musste, dass sie sich aus der Schusslinie bringen musste, aber sie konnte es verdammt noch mal nicht. Ihr Verstand setzte aus, ihr Körper verweigerte den Dienst.
Die Augen des Täters veränderten sich. Reda sah ihren eigenen Tod darin.
„Nein!“ Benz sprang über den Tresen und warf sich auf den Kerl, genau, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber sie hatte ihn nicht abgelenkt, hatte nichts getan.
Der Täter sprang zurück und schoss, als Benz gegen ihn prallte. Der scharfe Knall der 38-Millimeter riss sie in dem Augenblick aus ihrer Starre, als die Männer gemeinsam zu Boden gingen, aber sie konnte ihre eigene Waffe nicht schnell genug aus dem Halfter ziehen. Der Schütze stand auf, schüttelte Benz ab und rannte zum Hinterausgang.
„Halt!“, rief sie. „Stehen bleiben, Polizei!“ Was reine Zeitverschwendung war. Er war längst verschwunden, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Sie zögerte noch einen feigen Augenblick lang – verfolgen oder bleiben? Ein Blick auf Benz nahm ihr die Entscheidung ab: Eine dunkelrote Blutlache bildete sich unter ihm auf dem Holzboden. Sie griff nach ihrem Funkgerät und meldete einen verletzten Polizisten, forderte Verstärkung und einen Krankenwagen an. Dann hockte sie sich neben Benz, rutschte in seinem Blut beinahe aus und sah die klaffende Wunde an seinem Hals.
Sie legte eine Hand auf die Wunde und drückte die Ränder zusammen, so fest sie konnte. Sie flehte ihn an, durchzuhalten, und versicherte ihm, dass Hilfe auf dem Weg war.
Das alles war nicht mehr wichtig, denn wie der Mann, der ihn umgebracht hatte, war Benz schon lange nicht mehr da.
„Und als die Detectives mir Fragen über den Täter gestellt haben, konnte ich mich an überhaupt nichts erinnern“, beendete sie ihre Geschichte. Sie nahm den dunklen Wald, der sie auf beiden Seiten eingeschlossen hatte, nicht mehr wahr, sie sah wieder den Schnapsladen, das Blut und die Blicke der anderen Polizisten danach. „Die übrigen Zeugen hatten sein Gesicht nicht gesehen, und das Videowar nutzlos. Wenn ich ihnen wenigstens irgendwas hätte sagen können … aber nein. Alles weg, pffff, wie Nebel, als wäre mein Gehirn genauso erstarrt gewesen wie mein Körper. Nicht einmal durch eine Aussage konnte ich helfen. Ich war nur Ballast. Nutzlos.“ Sie sah zu Dayn, der immer noch schweigend neben ihr ging. „So wie jetzt.“
Er sah ihr in die Augen, auch wenn sein Gesichtsausdruck in der Dunkelheit verborgen blieb. Der nahende Sonnenaufgang tauchte den Horizont bereits in ein tiefes dunkles Blau. „Ich soll jetzt sagen, dass es nicht deine Schuld war.“
Ihr Magen zog sich unangenehm zusammen. „Du
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