Das Herz einer Frau
Dinge, die er einfach nur vergessen wollte. Dinge, von denen nur wenige wussten. Aber nun nahm er in Ashley die gleiche Unsicherheit wahr, mit der auch er einst gekämpft hatte. Ihre hatte sich in der jugendlichen Schüchternheit geäußert, die er für Snobismus gehalten hatte. Jetzt zeigte sie sich in dem geradezu verzweifelten Versuch, es allen recht zu machen.
Er dagegen war mit seiner Verunsicherung fertig geworden, indem er seiner Umwelt signalisierte, dass es ihm vollkommen gleichgültig war, was man von ihm hielt.
„Ich hatte ein kleines Problem im Umgang mit Autorität“, sagte er.
„Auf dem Internat?“ fragte sie.
„Schon viel früher.“ Er betrachtete die Flasche zwischen seinen Knien und zupfte dann gedankenverloren am Etikett. „Es gab keinen Sozialarbeiter oder Polizisten, dem ich nicht misstraut habe. Und ich bin aus jeder Pflegefamilie abgehauen. Mit dreizehn ließ ich niemanden mehr an mich heran.“
Ashley starrte auf Matts Profil. Sie konnte kaum glauben, was sie hörte.
„Pflegefamilien?“ wiederholte sie nach einem Moment. „Wo waren deine Eltern?“
„Ich habe keine Ahnung, wo mein Dad ist. Und sie haben mich meiner Mom weggenommen, als ich zehn war. Sie hatte ein Alkoholproblem.“
„Wo ist sie jetzt?“
„Tot.“
„Oh“, murmelte sie. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr Leid tat, aber sie befürchtete, dass er kein Mitgefühl wollte. Doch der Schmerz, den sie plötzlich für den kleinen, mutterlosen Jungen empfand, war größer als ihre Vorsicht. „Das tut mir Leid, Matt.“ Er riss einen Streifen Papier von der Flasche. „Wirklich.“
„Es ist lange her“, erwiderte er. „Irgendwann machte der Direktor der Schule, die ich dauernd schwänzte, ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte.“
„Wie alt…“
„Dreizehn. Ich war beim Diebstahl eines SixPacks erwischt worden, und Mel, Mr.
Hughes, begleitete mich vor Gericht. Einige Wochen zuvor hatten alle in der Schule einen Eignungstest gemacht, und ich hatte am besten abgeschnitten. Er wollte, dass der Richter das wusste.“
„Da warst du in einer Pflegefamilie?“
„In der vierten oder fünften. Irgendwann habe ich den Überblick verloren.“
„Was hat der Richter gesagt?“
„Ich hatte schon zwei Mal vor ihm gestanden“, gab Matt zu. „Er ließ mir die Wahl.
Entweder ich nehme das Angebot des Direktors an, oder ich lande für vier Jahre in einer Jugendstrafanstalt. Mel sollte die Leitung einer Privatschule in Virginia übernehmen. St. Ives“, nannte er den Namen. Bestimmt fragte Ashley sich längst, wieso ein schwer erziehbarer, unter der Aufsicht des Jugendamts stehender Junge auf ein so exklusives Internat gegangen war.
„Er und seine Frau hatten keine Kinder“, fuhr er fort. „Und offenbar war er überzeugt, dass aus mir etwas werden könnte, wenn ich in einer neuen Umgebung eine Chance bekäme.“
„Sie bekamen die Vormundschaft über dich?“
„Ja. Und ich habe ihnen das Leben zur Hölle gemacht. Ich wollte keine Almosen“, gestand er leise. „Aber ich wollte auch nicht vier Jahre hinter Gittern verbringen.“
Also war er mit ihnen gegangen, erzählte Matt weiter. Er wusste, dass er ihnen Leid tat, und hasste sie dafür. Damals hasste er so ungefähr alles und jeden. Er hatte nichts als seinen Stolz und Angst davor, dass man ihm auch den noch nahm, wenn er sich nicht an die Regeln hielt.
Aber Mel und Linda Hughes gaben nicht auf. Selbst dann nicht, als die Polizei ihn nach Hause brachte, nachdem er – zusammen mit Cord – einen Wagen aufgebrochen und kurzgeschlossen hatte. Die Hughes schickten ihn nicht fort, sondern besorgten ihm einen Job, damit er sich das Geld für ein eigenes Auto verdienen konnte.
Am Tag darauf fing er auf einer Baustelle von East Coast Shelter an. Dort arbeitete er umsonst, aber Mel bezahlte ihn.
Und vom Bauleiter und dem Architekten lernte er so viel, dass er bald wusste, welchen Beruf er später ergreifen wollte.
„Ich fand es großartig, zu sehen, wie ein Gebäude wächst“, sagte er. „Und ich konnte mir nichts Schöneres vorzustellen, eine Idee in meinem Kopf vom ersten Spatenstich bis zum Richtfest umzusetzen.“
Ashley sah ihm an, wie sehr es ihn faszinierte, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen. Er hatte etwas gefunden, auf das er seine Intelligenz und unbändige Energie verwenden konnte.
Er stellte die Flasche auf sein Hemd. „Jedenfalls war das der Zeitpunkt, an dem aus einem störrischen Maultier ein entschlossener Mensch wurde. Und
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