Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
Mr. Kelly« – er wies auf den blonden Mann – »wollte gerade wieder nach London abreisen, als ich ihm die Nachricht von Angel überbrachte. Sie haben sich sicher schon gedacht, dass er ihr nächster Verwandter ist, der Bruder ihrer Mutter. Er wollte unbedingt einen Helikopter chartern und direkt hierherkommen.«
Emma blickte den Engländer an. In seinem gebügelten weißen Hemd und seinem gut geschnittenen Jackett hätte er in jeden Sitzungssaal oder in ein elegantes Restaurant gepasst. Emma schaute auf ihre zerknitterte Bluse, die mit Milch aus der Flasche der Löwenbabys und Teerflecken bespritzt war; ihre Jeans war verschwitzt, und ihre Stiefel waren verdreckt. Angels Sachen sahen genauso ungepflegt und schmutzig aus. In gewisser Weise befriedigte es sie, dass sie zwar den falschen Akzent und die falsche Haarfarbe hatte, aber wenigstens in dieser Hinsicht Angel äußerlich ähnlich sah. Doch dieses Gefühl wurde sofort von einer neuen Sorge überlagert. Vielleicht entstand ja durch ihre Erscheinung der Eindruck, dass man ihr kein Kind anvertrauen konnte. Abgesehen von ihrer Kleidung, hatte sie Sonnenbrand auf den Armen und im Gesicht, und ihre Haare waren schmutzig. Und Angels Aussehen konnte man möglicherweise auch so deuten, dass sie in den letzten Tagen vernachlässigt worden war. Ihr Gesicht war mit Ruß verschmiert, und der Kratzer auf ihrer Wange war noch blutig.
Als Emma aufblickte, sah sie, dass Angels Onkel sie musterte. Ob Joshua ihm wohl schon etwas erzählt hatte? Ein Schauer der Angst lief ihr über den Rücken. Vielleicht hatten sie sich ja bereits geeinigt, ohne sie einzubeziehen. Vielleicht würden sie Angel für immer mitnehmen.
Joshua trat auf sie zu, anscheinend, um sie zu begrüßen. Höflich lächelnd wandte sie sich zu ihm. Hoffentlich ließ er seinen alten Freund nicht im Stich. Als sie ihm ins Gesicht blickte, hatte sie das Gefühl, Daniels Bruder oder Vetter vor sich zu sehen. Joshua hatte die gleichen hohen Wangenknochen und fein gezeichneten Lippen und eine ebenso anmutige Haltung. Auch Joshua musterte sie. Emma wünschte, sie wüsste, was Daniel auf dem Hügel über sie – über sie beide – gesagt hatte. Wenn sie gehört hätte, wie er sagte, sie würde hier in Tansania bleiben und mit ihm zusammenarbeiten, mit ihm leben, wäre ihr alles viel realer vorgekommen.
Joshua lächelte sie an, dann wandte er sich zu dem Polizeibeamten. »Das ist Mr. Malindi, der Polizeichef für die Region um Arusha.« Der untersetzte Mann neigte den Kopf. Er strahlte eine Macht aus, die man beinahe mit Händen greifen konnte.
Schließlich wies Joshua auf den Onkel. »Und das ist Mr. James Kelly aus England.«
James starrte Angel an, als ob er einen Geist sähe. Er riss sich von ihrem Anblick los, um die Erwachsenen hastig zu begrüßen. Dann ging er auf sie zu, bis er ihr Gesicht sehen konnte, das ängstlich hinter Emma hervorlugte. »Hallo, Angel. Ich bin dein Onkel James.«
»Hallo, Onkel«, sagte Angel höflich. Dann blickte sie zu Boden.
Leise fragte James Emma: »Wie geht es ihr?«
»Gut«, erwiderte Emma.
»Wann ist sie gefunden worden? Vor zwei Tagen? Sie hat sich wundervoll erholt.«
»Nein, es ging ihr gut, als wir sie gefunden haben. Moyo hat sie hervorragend versorgt.«
James blickte sie zweifelnd an. »Wollen Sie damit sagen, dass diese Löwin …«
Moyo schüttelte den Kopf, und James sprang erschrocken zurück.
»Es ist schon in Ordnung, Onkel. Sie tut dir nichts«, sagte Angel. »Sie ist ganz sanft.«
James starrte sie an, gefesselt von ihrer Stimme. Er hockte sich hin, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Emma bemerkte, dass seine Augen genauso blau waren wie Angels. Als sie die zwei blonden Köpfe so dicht beieinander sah, spürte Emma einen Stich. Sie sahen aus wie Vater und Tochter.
»Ich freue mich so, dich kennenzulernen, Angel.« James hatte ein nettes Lächeln, stellte Emma fest, warmherzig und freundlich. »Weißt du, wer ich bin? Der Bruder deiner Mummy?«
Angel nickte.
Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann schaute er sie nur schweigend an, und sein Blick glitt über ihre Haare, ihr Gesicht, ihren Körper. »Oh, Gott, du siehst genauso aus wie Laura als Kind.« Er ließ den Kopf sinken und presste die Lippen aufeinander. »Entschuldigung …« Als er sich gefasst hatte, sah er wieder auf.
Angel schaute ihn an und erklärte: »Ich will nicht mit dir kommen und bei dir leben.«
James zuckte zusammen, aber er nickte. »Ich weiß.
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