Das Herz ihrer Tochter
war - doch dahinter lag eine
unumstößliche Wahrheit. In meinen Augen war die katholische Kirche schon immer
der Beweis für das religiöse Überleben des Stärkeren: Die wahrhaftigsten,
einflußreichsten Ideen waren die, die sich mit der Zeit durchgesetzt hatten.
Aber Fletcher sagte, die einflußreichsten Ideen waren unterdrückt worden ...
weil sie den Fortbestand der orthodoxen Kirche gefährdeten. Dass man sie
deshalb hatte verwerfen müssen, weil sie fast verbreiteter gewesen waren als
das orthodoxe Christentum.
Anders ausgedrückt: Die Kirche hatte
nicht überlebt und an Macht gewonnen, weil sie die überzeugendsten Ideen hatte,
sondern weil sie andere rücksichtslos ins Abseits gedrängt hatte.
»Dann waren die Bücher des Neuen
Testaments lediglich das Ergebnis einer redaktionellen Entscheidung, die
irgendwer einmal treffen musste«, sagte ich.
Fletcher nickte. »Aber worauf beruhten
diese Entscheidungen? Die Evangelien sind nicht das Wort Gottes. Sie sind
nicht einmal das aus erster Hand von den Aposteln überlieferte Wort Gottes. Sie
sind lediglich diejenigen Geschichten, die das Glaubensbekenntnis der
orthodoxen Kirche, dem sich die Menschen anschließen sollten, am besten
unterstützten.«
»Aber wenn Irenaus das nicht getan
hätte«, gab ich zu bedenken, »gäbe es heute vielleicht gar kein Christentum.
Irenaus hat eine ganze Menge zersplitterter Anhänger und ihre jeweiligen
Glaubensformen geeint. Wer in Rom des Jahres 150 festgenommen wurde, weil er
sich zu Christus bekannte, der wollte sich darauf verlassen können, dass die
Leute neben ihm nicht in letzter Minute eine Kehrtwende machten und sagten,
sie glaubten etwas anderes. Tatsächlich ist es auch heute noch wichtig zu wissen,
wer ein Gläubiger ist und wer ein Spinner - egal, welche Zeitung man
aufschlägt, überall sieht man, wie Zorn, Vorurteile oder Stolz regelmäßig als
das Wort Gottes verkauft werden.«
»Orthodoxie behebt dieses Risiko«,
pflichtete Fletcher bei. »Wir sagen dir, was wahr ist und was nicht, damit du
nicht zu fürchten brauchst, dich zu irren. Das Problem ist, dass Menschen
dadurch sofort in Gruppen eingeteilt werden. Manche werden bevorzugt, manche
nicht. Manche Evangelien werden ausgewählt, andere bleiben jahrtausendelang in
der Erde verborgen.« Er blickte mich an. »Irgendwann ging es bei der
organisierten Religion nicht mehr um Glaube, sondern darum, wer die Macht
hatte, diesen Glauben zu bewahren.« Fletcher riss das Blatt mit Irenaus'
Gleichung vom Notizblock, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. »Sie
sagten, Sinn und Zweck von Religion sei es, Menschen zusammenzubringen. Aber
tut sie das wirklich? Oder trennt sie sie vielmehr - wissentlich, gezielt und
mit Vorsatz?«
Ich holte tief Luft. Und dann erzählte
ich ihm alles, was ich über Shay Bourne wusste.
LUCIUS
Keiner von uns konnte schlafen, es ging
einfach nicht.
Die Leute, die vor dem Gefängnis
kampierten - über die jeden Abend in den Lokalnachrichten countdownmäßig
berichtet wurde (MR. MESSIAS: 23. TAG) -, hatten irgendwie Wind davon
bekommen, dass Shay schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
Und mittlerweile hatte sich zusätzlich zu dem Lager, das für Shay eine
Gebetswache abhielt, eine ausgesprochen lautstarke Gruppe von Leuten
versammelt, die das für ein Zeichen hielten und meinten, Shay sei deshalb so
schwer verletzt worden, weil Gott fand, er habe es nicht anders verdient.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurden sie
aus irgendeinem Grund lauter, aggressiver. Die Nationalgarde hatte vor dem Gefängnis
Stellung bezogen, um für Ruhe zu sorgen, doch die Unruhestifter ließen sich
dadurch nicht beeindrucken. Shays Anhänger sangen Gospelsongs, um die
Schlachtrufe der Ungläubigen zu übertönen (»Jesus lebt! Bourne stirbt!«).
Selbst wenn ich den Kopfhörer aufhatte, konnte ich den Krach hören.
Die Spätnachrichten an dem Abend waren
richtig surreal. Auf dem Bildschirm sah ich den Knast, während ich gleichzeitig
von draußen und aus dem Kopfhörer den Mob schreien hörte.
Es gibt nur einen Gott, riefen die Leute.
Sie trugen Schilder: JESUS IST MEIN
FREUND - NICHT SATAN. LASS IHN FÜR SEINE SÜNDEN STERBEN. KEINE DORNENKRONE FÜR
SHAY BOURNE.
Nationalgardisten hielten sie von den
Shay-Anhängern getrennt, bewaffnete Hüter, die auf der Bruchlinie in der
öffentlichen Meinung patrouillierten.
»Wie es aussieht«, sagte die Reporterin,
»schwindet die Zustimmung für Shay Bourne und sein beispielloses
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