Das Herz ihrer Tochter
einen
Rest Zuneigung für ihn empfand. Aber andererseits war der Junge, der einige
Jahre bei ihr gelebt hatte, im Jugendgefängnis gelandet und als Erwachsener
wegen Mordes verurteilt worden. »Tja«, hatte ich nur gesagt.
Jetzt, zwanzig Minuten später, näherte
ich mich Grace' Haus und hoffte, freundlich empfangen zu werden. Es war rosa
mit grauen Fensterläden, und in einen Naturstein am Ende der Einfahrt war die
Nummer 131 eingemeißelt - doch die Rollos waren heruntergelassen, das Garagentor
geschlossen. Auf der Veranda hingen keine Pflanzen, kein Fenster, keine Tür
stand offen - da war nichts, was darauf hindeutete, dass jemand zu Hause war.
Ich stieg aus dem Wagen und klingelte.
Zweimal.
Na ja, ich konnte eine Nachricht dalassen
mit der Bitte, mich anzurufen. Das würde mehr Zeit kosten - Zeit, die Shay
eigentlich nicht hatte -, aber eine andere Möglichkeit sah ich nicht.
In diesem Moment öffnete die Tür sich
einen Spalt weit. »Ja?«, murmelte eine Stimme.
Ich versuchte, in die Diele zu spähen,
aber es war stockdunkel. »Wohnt hier Grace Bourne?«
Ein Zögern. »Das bin ich.«
»Ich bin Father Michael Wright. Ich habe
eine Nachricht für Sie, von jemandem aus meiner Gemeinde.«
Eine schlanke Hand tauchte auf. »Geben
Sie sie mir«, sagte Grace.
»Ahm, könnte ich wohl kurz reinkommen -
Ihre Toilette benutzen? Es war eine lange Fahrt von Concord ...«
Sie zögerte - was ich wohl auch tun
würde, wenn ein Fremder, Priesterkragen oder nicht, vor meiner Tür stände und
ich eine allein lebende Frau wäre. Doch dann öffnete sich die Tür ganz, und
Grace trat zurück, um mich hereinzulassen. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt
zur Seite, sodass ihr ein langer Vorhang aus schwarzen Haaren über das Gesicht
fiel. Ich sah lange, dunkle Wimpern und einen rubinroten Mund. Selbst der kurze
Blick verriet mir, wie hübsch sie sein musste. Ich fragte mich, ob sie
Platzangst hatte oder vielleicht extrem schüchtern war. Ich fragte mich, wer
ihr derart wehgetan hatte, dass sie sich derart vor dem Rest der Welt
fürchtete.
Ich fragte mich, ob Shay es gewesen war.
»Grace«, sagte ich und ergriff ihre Hand.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Da hob sie das Gesicht, und der
Haarvorhang fiel nach hinten. Die ganze linke Hälfte von Grace Bournes Gesicht
war zerstört und vernarbt, ein Lavastrom aus Haut, der gestreckt und genäht
worden war, um eine böse Verbrennung zu bedecken.
»Buh!«, sagte sie.
»Es ... es tut mir leid. Ich wollte
nicht...“
»Jeder starrt«, sagte Grace leise. »Sogar
die, die sich Mühe geben, es nicht zu tun.«
Es hat einen Brand gegeben, hatte Shay gesagt. Ich
will nicht drüber reden. »Tut
mir leid.«
»Ja, das sagten Sie bereits. Das
Badezimmer ist am Ende des Flurs.«
Ich legte eine Hand auf ihren Arm. Auch
da waren Hautflächen vernarbt. »Grace. Diese Nachricht ist von Ihrem Bruder.«
Sie wich einen Schritt vor mir zurück,
perplex. »Sie kennen Shay?«
»Er möchte Sie dringend sehen, Grace. Er
wird bald sterben.“
»Was hat er über mich gesagt?«
»Nicht viel«, gestand ich. »Aber Sie sind
die einzige Angehörige, die er hat.«
»Wissen Sie von dem Feuer?«, fragte
Grace.
»Ja. Deshalb war er im Jugendgefängnis.«
»Hat er Ihnen erzählt, dass unser
Pflegevater bei dem Brand umgekommen ist?«
Diesmal war ich überrascht. Als Shays
Jugendstrafe in dem Mordprozeß gegen ihn erwähnt wurde, war nur von Brandstiftung
die Rede gewesen, nicht, dass dadurch ein Mensch ums Leben gekommen war. Jetzt
wurde mir klar, warum Renata Ledoux Shay aus tiefster Seele hasste.
Grace blickte mich eindringlich an. »Hat
er darum gebeten, mich zu sehen?«
»Er weiß nicht, dass ich hier bin.«
Sie wandte sich ab, doch ich konnte noch
sehen, dass ihr die Tränen gekommen waren. »Er wollte nicht, dass ich zu seinem
Prozess komme.«
»Er wollte vermutlich nicht, dass Sie das
mitansehen müssen.«
»Sie wissen gar nichts.« Sie vergrub das Gesicht
in den Händen.
»Grace«, sagte ich, »kommen Sie mit mir.
Besuchen Sie ihn.“
»Ich kann nicht«, schluchzte sie. »Ich
kann nicht. Sie verstehen das nicht.«
Doch langsam fiel bei mir der Groschen:
Shay hatte den Brand gelegt, durch den sie entstellt worden war. »Deshalb
sollten Sie erst recht zu ihm gehen. Ihm verzeihen, ehe es zu spät ist.«
»Ihm verzeihen? Ihm verzeihen?«, wiederholte
Grace. »Egal, was ich sage, es ändert nichts daran, was passiert ist. Du kannst
dein Leben nicht noch einmal leben.« Sie blickte
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