Das Herz ihrer Tochter
eine leicht ausgestellte
schwarze Leggings und ein langärmeliges T-Shirt mit Tinker-Bell-Aufdruck -
Sachen, die Ciaire an faulen Sonntagen trug, wenn es schneite und man zu nichts
anderem Lust hatte, als Zeitung zu lesen und zu dösen, mit der Wange an die
Wärmewand des Kaminfeuers gedrückt. Ich wählte eine Unterhose aus - SAMSTAG
stand vorne drauf. Und während ich herumsuchte, um zu sehen, ob es noch andere
Wochentage gab, fand ich es, eingewickelt in ein rotes Halstuch, das Foto. Es
steckte in einem kleinen ovalen Silberrahmen, und ich dachte zuerst, es wäre
eines von Claires Babyfotos - aber dann erkannte ich, dass es Elizabeth war.
Der Rahmen hatte immer auf dem Klavier
gestanden, das schon lange niemand mehr spielte. Mir war nicht mal aufgefallen,
dass er nicht mehr da war, ein Indiz dafür, dass ich wohl gelernt hatte, wieder
zu leben.
Und so packte ich die Sachen in eine
Plastiktüte, um sie mit ins Krankenhaus zu nehmen, in der inständigen Hoffnung,
meine Tochter nicht darin beerdigen zu müssen, sondern wieder nach Hause
bringen zu können.
LUCIUS
In den letzten Nächten schlief ich gut.
Ich hatte keine Schweißausbrüche mehr, keinen Durchfall, kein Fieber, das mich
quälte. Crash Vitale saß noch immer in Isolationshaft, sodass seine
Schimpftiraden mich nicht wecken konnten. Ab und an schlurfte der Aufseher, der
extra zu Shays Schutz da war, leise über den Laufgang.
Ich schlief wirklich gut, und deshalb
wunderte ich mich, dass ich von dem leisen Gespräch in der Zelle nebenan wach
geworden war. »Lass mich doch erklären, ja?«, fragte Shay. »Was, wenn es eine
andere Möglichkeit gibt?«
Ich wartete auf eine Antwort von dem, mit
dem er redete, aber es kam keine.
»Shay?«, sagte ich. »Ist alles in
Ordnung?«
»Ich hab versucht, mein Herz zu spenden«,
hörte ich ihn sagen. »Und es ist ein einziger Schlamassel draus geworden.« Shay
trat gegen die Wand, und irgend etwas Schweres in seiner Zelle fiel zu Boden.
»Ich weiß, was du willst. Aber weißt du, was ich will?“
»Shay?«
Seine Stimme war bloß
ein Atemhauch. »Abba?“
» Ich bin's, Lucius.«
Ein kurzes Zögern. »Du
hast mein Gespräch belauscht.«
War es ein Gespräch, wenn du in deiner
Zelle einen Monolog hieltest? »Nicht mit Absicht... du hast mich geweckt.«
»Warum hast du
geschlafen?«, fragte Shay.
»Weil es drei Uhr nachts ist«, erwiderte
ich. »Weil man um die Zeit schlafen sollte.«
»Weil ich um die Zeit schlafen sollte«,
wiederholte Shay. »Richtig.«
Ich hörte ein dumpfes Geräusch und
begriff, dass Shay gestürzt war. Beim letzten Mal hatte er einen Anfall
gehabt. Ich kroch unter das Bett und holte den Klingenspiegel aus dem Versteck.
»Shay«, rief ich. »Shay?«
In dem Spiegelbild konnte ich ihn sehen.
Er kniete vorn in der Zelle, die Hände ausgebreitet. Er hatte den Kopf gesenkt,
und er war in Schweiß gebadet, der in dem dämmrigen roten Licht auf dem
Laufgang aussah wie etliche Blutstropfen.
»Geh weg«, sagte er, und ich zog den
Spiegel zurück, damit er ungestört war.
Als ich beim Verstauen des Spiegels kurz
hineinschaute, sah ich, dass meine Haut, wie die von Shay, scharlachrot war.
Aber trotzdem fiel mir der vertraute Ausschlag auf, der sich erneut auf meiner
Stirn gebildet hatte - eine Narbe, ein Makel, der dahinziehende Sturm eines
Planeten.
MICHAEL
Shays letzte Pflegemutter, Renata Ledoux,
war katholisch und lebte in Bethlehem, New Hampshire, und auf der Fahrt zu ihr
entging mir nicht die Ironie, die in dem Namen des Ortes steckte, an dem Shay
seine Jugend verbracht hatte. Ich trug meinen Priesterkragen und hatte meine
würdigste Priestermiene aufgesetzt, weil ich entschlossen war, alle Register
zu ziehen. Ich wollte alles tun, was ich konnte, um herauszufinden, was aus
Grace geworden war.
Doch wie sich herausstellte, musste ich
mich gar nicht anstrengen. Renata kochte Tee für uns, und als ich sagte, ich
hätte eine Nachricht für Grace von jemandem aus meiner Gemeinde, schrieb sie
ohne Umschweife eine Adresse auf einen Zettel und gab ihn mir. »Wir haben noch
Kontakt«, sagte sie einfach. »Gracie war ein liebes Mädchen.«
Ich fragte mich unwillkürlich, was sie
von Shay hielt. »Hatte sie nicht einen Bruder?«
»Der«, hatte Renata gesagt, »soll in der
Hölle schmoren.«
Es war albern zu glauben, Renata wüßte
nichts von Shays Todesstrafe - auch im ländlichen Bethlehem gab es Fernseher.
Ich hatte gedacht, dass sie als seine Pflegemutter vielleicht doch noch
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