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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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weg. »Ich denke ... Ich ...
Sie sollten gehen.«
    Ich war entlassen. Ich nickte
akzeptierend.
    »Das Badezimmer ist die zweite Tür
rechts.«
    Ach j a - mein Vorwand, um ins Haus zu
kommen. Ich ging den Flur hinunter und betrat ein Badezimmer, in dem es stark
nach Blumen roch, ein überwältigender Duft, den eine Mischung aus
Lufterfrischer und Rosenpotpourri verströmte. Ersatzrollen Klopapier hingen in
einer gehäkelten Halterung, der Spülkasten steckte in einer gehäkelten
Umhüllung, und die Kleenexdose hatte einen gehäkelten Deckel. Der Duschvorhang
war mit Rosen verziert, und an den Wänden rundherum hingen gerahmte Blumendrucke,
bis auf eine Zeichnung von Kinderhand - ein Drache oder vielleicht eine
Eidechse. Ich fühlte mich plötzlich wie im Haus einer älteren Dame, die den
Überblick über die Anzahl ihrer Katzen verloren hatte. Die Atmosphäre war
erdrückend; Grace Bourne war dabei, sich selbst ganz langsam zu ersticken.
    Wenn Shay wusste, dass seine Schwester
ihm den Brand verzieh, dann würde er vielleicht - selbst wenn ihm die
Herzspende untersagt wurde - dennoch in Frieden sterben können. In der
Verfassung, in der Grace im Augenblick war, würde sie sich nicht überzeugen
lassen, aber ich konnte es weiter versuchen. Ich würde mir ihre Telefonnummer
besorgen und sie so lange anrufen, bis sie klein beigab.
    Ich öffnete das Arzneispiegelschränkchen,
auf der Suche nach einem verschriebenen Medikament mit Grace' Telefonnummer
darauf, damit ich sie mir notieren konnte. Es war voll mit Lotionen und Cremes
und Körperpeelings, Zahnpasta und Zahnseide und Deodorant. Schließlich wurde
ich doch fündig: Auf dem Etikett eines Fläschchens mit Schlaftabletten stand
die Telefonnummer. Ich schrieb sie mir auf die Handfläche und stellte die
Tabletten zurück, neben einen kleinen Zinnrahmen. Zwei Kinder saßen an einem
Tisch: Grace in einem Hochstuhl mit einem Glas Milch vor sich und Shay über ein
Bild gebeugt, das er malte. Einen Drachen oder vielleicht eine Eidechse.
    Er lächelte, so breit, dass es aussah,
als müsste es wehtun.
    Jeder Häftling ist jemandes Kind. Und
jedes Opfer auch. Ich verließ das Badezimmer. Wieder bei Grace, bedankte ich
mich und gab ihr meine Karte. »Nur für den Fall, dass Sie Ihre Meinung
ändern.«
    »Meine Meinung musste nie geändert werden«, sagte sie und schloss die Tür
hinter mir. Gleich darauf hörte ich, wie der Sicherheitsriegel vorgeschoben
wurde, sah, dass der Vorhang am Fenster sich bewegte. Ich hatte noch immer das
Drachenbild vor Augen, sorgfältig gerahmt an der Badezimmerwand. FÜR GRACE,
hatte links oben in der Ecke gestanden.
    Ich war schon fast in Crawford Notch, als
ich begriff, was mir an dem Foto von Shay als Kind komisch vorgekommen war und
keine Ruhe mehr gelassen hatte. Auf dem Bild hielt er den Stift in der rechten
Hand. Aber im Gefängnis - wenn er aß, wenn er schrieb - war er Linkshänder.
    Konnte sich jemand im Laufe seines Lebens
so radikal verändern? Oder waren all diese Veränderungen bei Shay - seine
bevorzugte Hand, seine Wunder, seine Fähigkeit, aus dem Thomasevangelium zu
zitieren - womöglich die Folge irgendeiner ... Besessenheit? Es hörte sich an
wie aus einem schlechten Science-Fiction-Film, aber das hieß nicht, dass das
nicht passieren konnte. Wenn der Heilige Geist von Propheten Besitz ergreifen
konnte, warum dann nicht auch von einem Mörder?
    Oder vielleicht war es viel profaner.
Vielleicht entschied ja der, der du in der Vergangenheit warst, darüber, wer du
in der Zukunft sein wolltest. Vielleicht war Shay ja absichtlich vom Rechts-
zum Linkshänder geworden. Vielleicht tat er Wundersames, um eine so
schreckliche Sünde wie die Brandstiftung wiedergutzumachen, die zwei
Menschenleben gekostet hatte - eines im Wortsinn, eines metaphorisch. Mir kam
der Gedanke, dass die Bibel die Zeit zwischen Jesu achtem und
dreiunddreißigstem Lebensjahr aussparte. Was, wenn er irgend etwas
Schreckliches getan hatte; was, wenn seine späteren Jahre eine Antwort darauf
waren?
    Du konntest eine furchtbare Tat begehen
und dann dein Leben lang versuchen, Buße zu tun. Wer wusste das besser als ich?
     
    MAGGIE
     
    Mein letztes Gespräch mit Shay Bourne,
bevor ich ihn in den Zeugenstand rief, war nicht gut gelaufen. In der
Gerichtszelle hatte ich ihm noch einmal in Erinnerung gerufen, wie seine
Befragung ablaufen würde. Shay kam nicht gut klar mit Unvorhergesehenem; er
könnte aggressiv werden oder sich im Zeugenstand klein zusammenrollen. So

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