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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Augenbraue.
    Wie die Jugendlichen, mit denen ich
arbeitete, wusste ich, dass wir Wunder brauchten - sie verhinderten, dass die
Realität einen lähmte. Und so starrte ich auf die Oblate, hoffte, dass die vom
Wein skizzierten Gesichtszüge sich zu einem Bildnis von Jesus verfestigten ...
und blickte plötzlich auf etwas ganz anderes. Das zottelige dunkle Haar, das
mehr nach dem Drummer einer Punkband aussah als nach einem Priester, die bei
einem Ringkampf in der Highschool gebrochene Nase, die Bartstoppeln.
Eingeprägt in die Oberfläche der Hostie, mit der Präzision eines Graveurs, war
ein Bild von mir.
    Was hat mein Kopf auf dem Leih Christi zu
suchen?, dachte ich, während ich die
Hostie auf ihren Teller legte, bläulich gefleckt und schon halb aufgelöst. Ich
hob den Weinkelch. »Dies ist mein Blut«, sagte ich.
     
    JUNE
     
    Während der Zeit, in der Shay Bourne als
Zimmermann in unserem Haus arbeitete, machte er Elizabeth ein Geburtstagsgeschenk.
Es war eine kleine Truhe, die er selbst aus Holzresten gebaut hatte, nach
Feierabend, wo auch immer er den verbrachte. Er hatte sie liebevoll mit
Schnitzereien versehen: Auf jeder Seite war eine Fee zu sehen, die eine
Jahreszeit darstellte. Der Frühling war mit Kletterranken bedeckt und zog eine
Schleppe aus Blumen hinter sich her. Der Sommer hatte Flügel aus Pfingstrosen
und eine Sonne als Krone. Der Herbst trug die Bernsteinfarben von Zuckerahorn
und Espenlaub, auf dem Kopf einen Eichelhut. Der Winter lief Schlittschuh auf
einem zugefrorenen See und hinterließ eine Spur aus silbrigem Raureif. Auf dem
Deckel war ein Bild vom Mond, der in einem Sternenmeer aufging, die Arme zur
Sonne ausgestreckt, die er nicht ganz erreichen konnte.
    Elizabeth mochte die Truhe. An dem Abend,
als Shay sie ihr schenkte, legte sie eine Wolldecke hinein und schlief darin.
Als Kurt und ich ihr am nächsten Tag erklärten, das dürfe sie nicht wieder tun
- was, wenn der Deckel zufiel, während sie schlief? -, funktionierte sie die
Truhe erst in ein Bett für ihre Puppen um, dann in eine Spielzeugkiste. Sie gab
den Feen Namen. Manchmal hörte ich, wie sie mit ihnen sprach.
    Nach Elizabeth' Tod schaffte ich die
Truhe in den Garten, um Kleinholz daraus zu machen. Da stand ich, im achten
Monat schwanger und trauernd, und hatte Kurts Axt schon erhoben. Doch im
letzten Augenblick konnte ich es nicht. Elizabeth hatte die Truhe geliebt; wie
sollte ich es ertragen, die auch noch zu verlieren? Ich brachte sie auf den Dachboden,
wo sie jahrelang blieb.
    Wenn ich sagen würde, ich hätte die Truhe
vergessen, wäre das gelogen. Ich wusste, dass sie da war, verborgen hinter
Koffern und alten Kindersachen und Bildern mit kaputten Rahmen. Als Ciaire etwa
zehn war, ertappte ich sie dabei, wie sie versuchte, die Truhe nach unten zu
schleifen. »Die ist so schön«, sagte sie, ganz aus der Puste von der
Anstrengung. »Und da oben steht sie nur rum.« Ich herrschte sie an und sagte,
sie solle sich hinlegen und ausruhen.
    Aber Ciaire fragte ständig danach, und
schließlich brachte ich die Truhe in ihr Zimmer, wo sie am Fußende ihres Bettes
stand, genau wie damals bei Elizabeth. Ich erzählte ihr nie, wer sie gebaut
hatte. Doch manchmal, wenn Ciaire in der Schule war, lugte ich unwillkürlich
hinein. Ich fragte mich, ob auch Pandora wünschte, sie hätte den Inhalt vorher
überprüft - Herzschmerz, geschickt als Geschenk getarnt.
     
    LUCIUS
     
    Unter uns Häftlingen in Block I galt ich
als Meister im Angeln. Meine Ausrüstung bestand aus einer kräftigen Schnur, die
ich im Laufe der Jahre aus Garn gedreht hatte, und einem Gewicht am Ende -
einem Kamm oder einem Satz Spielkarten, je nachdem, wonach ich angeln wollte.
Ich konnte die Angel von meiner Zelle aus bis zu der von Crash werfen, am Ende
des Laufgangs, und bis zur Duschzelle am anderen Ende, dafür war ich bekannt.
Ich schätze, aus diesem Grund wurde meine Neugier geweckt, als Shay plötzlich
seine Angel auswarf.
    Es war am späten Nachmittag, wenn die
meisten von uns ein Nickerchen machten. Mir selbst ging es nicht besonders. Die
Entzündungen in meinem Mund erschwerten mir das Sprechen, ich musste ständig
aufs Klo. Die Haut um die Augen, dunkel vom Kaposi-Sarkom, war so geschwollen,
dass ich kaum sehen konnte. Da kam unversehens Shays Angelrute durch den
schmalen Spalt unter meiner Zellentür geflogen. »Willst du?«, fragte er.
    Wenn wir angeln, dann um etwas zu
bekommen. Wir tauschen Zeitschriften, etwas zu essen, wir bezahlen für

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