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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Drogen.
Aber Shay wollte gar nichts haben, er wollte etwas geben. Ans Ende seiner Schnur
war ein Stück Kaugummi gebunden.
    Kaugummi ist verboten. Es läßt sich als
Kitt zum Basteln von allen möglichen Sachen verwenden und zum Zustopfen von
Schlössern. Gott allein wusste, woher Shay diesen Schatz hatte - und noch
erstaunlicher war, dass er ihn nicht selbst behalten wollte.
    Ich schluckte, und es zerriß mir fast die
Kehle. »Nein danke«, krächzte ich.
    Ich setzte mich auf meinem Bett auf und
zog das Laken von der Plastikmatratze. Eine der Nähte hatte ich mühevoll manipuliert.
Ich hatte den Faden gerade so weit gelockert, dass es nicht auffiel, ich aber
trotzdem in die Schaumstofffüllung greifen konnte. Ich schob den Zeigefinger
hinein und pulte heraus, was ich gehortet hatte.
    Mein Versteck enthielt 3TC -Pillen - Epivir - und
Sustiva. Retrovir. Lomotil gegen Durchfall. All die Medikamente, die ich mir
seit Wochen vor Almas Augen auf die Zunge legte und scheinbar schluckte, aber
in Wahrheit seitlich in die Wange schob.
    Ich hatte mich noch nicht endgültig
entschieden, ob ich mich damit umbringen würde ... oder ob ich sie einfach
weiterhin aufbewahren würde, statt sie zu nehmen.
    Es ist schon komisch, dass man als
Todkranker noch immer darum ringt, die Oberhand zu behalten. Du willst über die
Bedingungen entscheiden; du willst das Datum festsetzen. Du redest dir alles
Mögliche ein, damit du dir vormachen kannst, nach wie vor Herr der Lage zu
sein.
    »Joey«, sagte Shay. »Willst du was
davon?« Er warf seine Angel bogenförmig über den Laufgang.
    »Im Ernst?«, fragte Joey. Die meisten von
uns taten einfach so, als wäre Joey gar nicht da; das war besser so für ihn.
Keiner nahm ihn sonderlich wahr, und ganz sicher hätte ihm keiner so etwas
Kostbares wie Kaugummi angeboten.
    »Ich
will was«, sagte Calloway. Er
hatte wohl die Angelschnur vorbeisegeln sehen, da seine Zelle zwischen der
Shays und Joeys lag.
    »Ich auch«, sagte Crash.
    Shay wartete, bis Joey das Kaugummi
genommen hatte, und zog dann seine Angelschnur vorsichtig näher, bis sie in
Reichweite von Calloway war. »Es ist genug da.«
    »Wie viel Stücke hast du?«, fragte Crash.
    »Nur das eine.«
    Ein einziges Stück
Kaugummi für sieben gierige Männer? Shays Angelrute flog nach links, an meiner
Zelle vorbei zu der von Crash. »Nimm dir was und reich es weiter«, sagte Shay.
»Vielleicht will ich ja das ganze Stück.“
    »Vielleicht.«
    »Scheiß drauf«, sagte
Crash. »Ich nehm alles.“
    »Wie du willst«,
erwiderte Shay.
    Ich stand auf, unsicher, und ging in die
Hocke, als Shays Angelrute bei Pogies Zelle landete. »Bedien dich«, sagte
Shay.
    »Aber Crash hat doch
das ganze Stück genommen -“
    »Bedien dich.«
    Ich konnte Papier knistern hören, als
Pogie das Kaugummi auspackte, ehe er schmatzend sagte: »Ich hab seit 2001 kein
Kaugummi mehr gekaut.«
    Inzwischen konnte ich es riechen. Die rosa
Farbe, den Zucker. Das Wasser lief mir im Munde zusammen.
    »Oh, Mann«, hauchte Texas, und dann
kauten alle schweigend vor sich hin, nur ich nicht.
    Shays Angelrute landete zwischen meinen
Füßen. »Greif zu«, drängte er.
    Ich griff nach dem Stück Kaugummi am Ende
der Schnur. Da bereits sechs andere Männer das Gleiche getan hatten, rechnete
ich nur noch mit einem kümmerlichen Rest, wenn überhaupt - doch zu meiner
Überraschung war das Stück Kaugummi noch unangetastet, die Packung intakt. Ich
riss die Hälfte ab und steckte sie in den Mund. Den Rest packte ich wieder ein
und band ihn an Shays Angelschnur. Gleich darauf flutschte es mir aus den
Fingern, zurück zu Shays Zelle.
    Zuerst konnte ich es kaum ertragen - die
Süße in meinem entzündeten Mund, die harten Ränder des Kaugummis, ehe es weicher
wurde. Tränen stiegen mir in die Augen, weil ich so dringend etwas wollte,
obwohl es mir solche Schmerzen bereitete. Ich hob schon eine Hand, um das
Kaugummi hineinzuspucken, als etwas Erstaunliches geschah: Mein Mund, meine
Kehle, sie taten nicht mehr weh, als wäre in dem Kaugummi ein Schmerzmittel,
als wäre ich kein Aidspatient, sondern ein ganz normaler Mann, der sich an der
Tankstelle diese Süßigkeit gekauft hatte, weil er eine lange Fahrt vor sich
hat. Mein Kiefer bewegte sich rhythmisch. Ich setzte mich auf den Boden meiner
Zelle und weinte, während ich kaute - nicht weil es wehtat, sondern weil es
nicht mehr wehtat.
    Wir waren so lange still, dass Aufseher
Whitaker hereinkam, um nach dem Rechten zu sehen, und mit dem Anblick,

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