Das Herz ihrer Tochter
rechnest...«
Direktor Coynes Stimme unterbrach ihn vom
Hof her. »Ich hab gerade erst eine Scheißtodestrage gekauft«, rief er jemandem
zu, den wir nicht sehen konnten. »Was soll ich denn jetzt damit anstellen?« Und
dann, als er nichts weiter sagte, nahmen wir alle etwas wahr - oder genauer
gesagt, etwas nicht mehr wahr. Das unaufhörliche Hämmern und Sägen, das seit
Wochen an der Tagesordnung gewesen war, weil das Gefängnis eine Todeskammer
für Shays Hinrichtung bauen ließ, war verstummt. Da war nur noch pure,
köstliche Stille.
»... bist du ein toter Mann«, beendete
Crash seinen Satz. Doch nun fragten wir uns, ob es dazu tatsächlich kommen
würde.
MICHAEL
Reverend Arbogath Justus predigte in der
Drive-in-Kirche Christi in Gott in Heldratch, Michigan. Seine Schäfchen kamen
jeden Sonntagmorgen mit dem Auto und erhielten einen blauen Flyer mit den
Bibelstellen des Tages und einem Hinweis, im Radio die Frequenz AM 1620
einzustellen, damit sie den guten Reverend auch hören konnten, wenn er die
Kanzel bestieg - die ehemalige Snackbar, aus der Zeit, als die Kirche noch ein
Autokino war. Normalerweise hätte ich das alles albern gefunden, doch seine
Herde zählte sechshundert Seelen, was mich zu der Annahme brachte, dass es
anscheinend genug Leute auf der Welt gab, die bereit waren, ihre Gebetswünsche
unter den Scheibenwischer zu klemmen, wo sie später eingesammelt wurden, und
sich von Meßdienerinnen auf Rollschuhen die Kommunion austeilen zu lassen.
Ich vermute, es war kein allzu großer
Sprung von der Kinoleinwand zur Mattscheibe, was wohl erklärte, warum Reverend
Justus auch eine eigene Fernsehsendung hatte, auf einem Kabelsender namens SOS
(Save Our Souls). Ich war beim Zappen ein paarmal darauf gelandet. Ich fand den
Mann faszinierend, und er weckte meine Neugier, wenn auch aus angenehm sicherer
Entfernung. Justus trug Eyeliner, wenn er auf Sendung war, und Anzüge in
allen möglichen grellbunten Farben. Seine Frau spielte Akkordeon, wenn
Kirchenlieder angestimmt wurden. Das Ganze kam mir vor wie eine Parodie auf
das, was Glaube sein sollte - leise und tröstlich, nicht pompös und dramatisch
-, weshalb ich jedes Mal schon bald wieder umschaltete.
Eines Tages, als ich mit dem Auto auf dem
Weg zu Shay war, staute sich auf der Straße zum Gefängnis der Verkehr. Junge
Mädchen mit glänzenden, properen Gesichtern bewegten sich von Auto zu Auto. Sie
trugen grüne T-Shirts, die auf dem Rücken mit dem Namen von Justus' Kirche
bedruckt waren, wie mit der Hand geschrieben, und darunter prangte die
stilisierte Zeichnung eines '57er Chevy-Kabrios. Als eines der Mädchen zu mir
kam, ließ ich das Fenster herunter. »Gott segne Sie!«, sagte sie und reichte
mir ein gelbes Flugblatt.
Darauf war eine Abbildung von Jesus, wie
er mit ausgestreckten Armen und geöffneten Handflächen in dem Oval eines
Pkw-Außenspiegels schwebte. Darüber stand: OBJEKTE IM SPIEGEL SIND NÄHER, ALS SIE ERSCHEINEN, die Warnung, die in vielen amerikanischen Autorückspiegeln
eingraviert ist.
Und darunter: Shay Bourne: ein Wolf im Schafspelz? Lass dich von einem falschen
Propheten nicht in die Irre führen!
Schließlich setzte sich die Autoschlange
wieder in Bewegung, und ich bog auf den Parkplatz ein, der so überfüllt war,
dass ich nur noch ein Plätzchen auf dem Rasen fand. Der Menschen- und
Medienansturm war ungebrochen.
Auf dem Weg zum Haupteingang merkte ich
jedoch, dass im Augenblick nicht Shay die Aufmerksamkeit der meisten hier fesselte,
sondern ein Mann in einem lindgrünen Dreiteiler mit dem Kragen eines
Geistlichen. Als ich näher kam, sah ich das dicke Make-up und den Eyeliner und
begriff, dass Reverend Arbogath Justus sich für seine erste öffentliche
Liveübertragung das Gefängnis ausgesucht hatte. »Wunder bedeuten gar nichts«,
verkündete Justus. »Die Welt ist voll mit falschen Propheten. In der
Offenbarung erfahren wir von dem Tier, das Wunder tut, um alle Menschen zu
verführen, es anzubeten. Wißt ihr, was mit dem Tier am Jüngsten Tag geschieht?
Es wird mit all denen, die sich verführen ließen, in einen glühenden Pfuhl
geworfen. Wollt ihr das?«
Eine Frau ganz vorn in der Menge fiel auf
die Knie. »Nein«, schluchzte sie. »Ich will mit Gott gehen.«
»Jesus kann dich hören, Schwester«, sagte
Reverend Justus. »Weil er hier ist, bei uns. Nicht in diesem Gefängnis da, wie
der falsche Prophet Shay Bourne!«
Die Bekehrten schrien auf. Doch sogleich
ertönte genauso lautes Gebrüll aus
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