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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ran.«
    »Ja, klar«, sagte ich. Ich spähte erneut
in den Spiegel und setzte die Tattoopistole wieder auf die Haut. Mit
angehaltenem Atem formte ich behutsam die Buchstaben L und A.
    Ich meinte, Shay wimmern zu hören, als
ich beim U war, und als ich schließlich das N in Angriff nahm, stieß er
einen kleinen Schrei aus. Meine Pistole tat seinen Kopfschmerzen wohl nicht
gerade gut. Achselzuckend ignorierte ich sein Gestöhne und nahm kurz darauf das
vollendete Werk in Augenschein.
    Mann, es war toll geworden. Die
Buchstaben bewegten sich bei jedem Atemzug, und selbst die hochrot geschwollene
Haut konnte die Wirkung der sauberen Buchstabenlinien nicht schmälern.
    »G-glauben«, stammelte Shay.
    Ich drehte mich um, als könnte ich ihn
durch die Mauer zwischen unseren Zellen sehen. »Was hast du gesagt?«
    »Du hast das gesagt«, berichtigte Shay mich. »Ich habe es doch richtig
gelesen, nicht?«
    Ich hatte niemandem erzählt, was ich als
sechstes Tattoo geplant hatte. Ich hatte niemandem die Entwürfe gezeigt. Und
ich wusste hundertprozentig, dass Shay nicht in meine Zelle schauen konnte.
    Ich zog den Mauerstein heraus, hinter dem
sich mein Safe versteckte, und holte die Messerklinge hervor, die ich als
Spiegel benutzte. Dann ging ich zur Zellentür und hielt die Klinge so, dass ich
Shays strahlendes Gesicht darin sehen konnte. »Woher wußtest du, was ich
geschrieben hab?«
    Shay lächelte noch breiter, dann hob er
die Faust und öffnete sie, Finger für Finger.
    Seine Handfläche war rot und geschwollen,
und quer darauf leuchtete in gotischer Schrift genau das gleiche Tattoo, das
ich mir soeben selbst gemacht hatte.
     
    MICHAEL
     
    Shay tigerte durch seine Zelle. »Haben
Sie ihn gesehen?«, fragte er mit wildem Blick.
    Ich ließ mich auf dem Hocker nieder, den
ich aus dem Kontrollraum mitgebracht hatte. Ich war heute lustlos. Mir spukte
ein Haufen Fragen zu dem, was ich gelesen hatte, durch den Kopf, und außerdem
würde ich zum ersten Mal seit einem Jahr nicht die Mitternachtsmesse lesen.
»Wen gesehen?«, fragte ich geistesabwesend.
    »Sully. Den Neuen. Nebenan.«
    Ich warf einen Blick in die Nachbarzelle.
Lucius DuFresne saß noch in der Zelle links von Shay. Die rechts von ihm, die
bislang leer gewesen war, war jetzt wieder belegt. Aber Sully war nicht darin.
Er war auf dem Hof, wo er immer wieder über die kleine Fläche sprintete und
gegen die Mauer sprang, als bildete er sich ein, wenn er nur fest genug dagegen
prallte, würde er sie irgendwann durchstoßen.
    »Die werden mich
töten«, sagte Shay. »Maggie ist dabei, einen schriftlichen Antrag auf -“
    »Das meine ich nicht«,
sagte Shay. »Einer von hier -« Ich wusste nicht viel über das Gefängnisleben,
aber die Grenze zwischen Shays Paranoia und der Wahrheit war dünn. Die Medien bescherten
Shay im Augenblick mehr Aufmerksamkeit, als irgendein anderer Häftling je
erhalten hatte, und es war durchaus möglich, dass er vielen Insassen ein Dorn
im Auge war.
    Hinter mir ging Aufseher Smythe in seiner
Schutzweste vorbei, in den Händen einen Besen und ein paar andere Putzutensilien.
Einmal die Woche mussten die Häftlinge ihre Zellen sauber machen. Immer nur
einer und unter Aufsicht: Sobald ein Häftling vom Hofgang zurückkam, stand
alles für ihn in seiner Zelle bereit, und ein Aufseher schob Wache, bis die
Arbeit erledigt war. Ich sah, wie Smythe die leere Zelle öffnete, die Putzsachen
hineinstellte und dann in Richtung Hof ging, um den neuen Häftling zu holen.
»Ich spreche mit dem Direktor. Ich sorge dafür, dass Sie geschützt werden«,
versprach ich Shay, was ihn offenbar beruhigte. »Also«, sagte ich, um das Thema
zu wechseln, »was lesen Sie gern?«
    »Was ist denn jetzt los? Wollen Sie einen
Lesezirkel aufmachen?«
    »Nein.«
    »Gut, ich lese nämlich nicht die Bibel.«
    »Das weiß ich«, sagte ich und ergriff die
Gelegenheit beim Schöpfe: »Wieso eigentlich nicht?«
    »Da stehen nichts als Lügen drin.« Shay
winkte abfällig.
    »Was lesen Sie denn, wo keine Lügen drin
stehen?«
    »Ich lese gar nicht«, antwortete er. »Die
Worte geraten mir immer durcheinander. Ich muss jedes ewig lange anstarren, bis
ich draus schlau werde.«
    »£5 ist Licht drinnen im Menschen des Lichts«, zitierte ich, »und
es erleuchtet die ganze Welt.«
    Shay stutzte. »Können Sie das auch
sehen?« Er hob die Hände vors Gesicht, betrachtete eingehend seine
Fingerspitzen. »Das Licht vom Fernseher - das ganze Zeug, das in mich
eingedrungen ist -, das ist noch

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