Das Herz ihrer Tochter
da. Es leuchtet, nachts.«
Ich seufzte. »Das ist aus dem
Thomasevangelium.«
»Nein, ich bin ziemlich sicher, das ist
aus dem Fernsehen...«
»Die Worte, Shay. Die Worte, die
ich eben gesagt habe. Die sind aus einem Evangelium, das ich gestern Abend
gelesen hab. Genau wie so einiges, was Sie zu mir gesagt haben.«
Er sah mir in die Augen. »Wer hätte das
gedacht«, sagte er sanft, und ich war unsicher, ob das eine Aussage oder eine
Frage war.
»Ich jedenfalls nicht. Ich versteh's
nicht«, gab ich zu. »Deshalb bin ich ja hier.«
»Deshalb sind wir alle hier«, sagte Shay.
Wenn ihr das hervorbringt in euch, wird
das, was ihr habt, euch retten. Das
sagte Jesus im Thomasevangelium. Und das war mit das Erste, was Shay Bourne zu
mir gesagt hatte, als er mir erklärte, warum er sein Herz spenden musste. War
das wirklich so einfach? War Erlösung vielleicht nichts, was man passiv akzeptierte,
wie mir weisgemacht worden war, sondern ein aktives Bemühen?
Für mich waren es vielleicht das
Rosenkranzbeten und die Heilige Kommunion und Gott zu dienen. Für Maggies
Vater war es vielleicht das regelmäßige Treffen mit starrköpfigen Gemeindemitgliedern,
die sich auch ohne Synagoge zum Beten trafen. Für Maggie war es vielleicht,
endlich das zu heilen, was sie dazu brachte, nur ihre Schwächen zu sehen statt
ihre Stärken.
Für Shay war es vielleicht der Wunsch,
sein Herz zu opfern - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne -, und zwar der
Mutter, die ihres vor vielen Jahren durch seine Schuld verloren hatte.
Andererseits war Shay Bourne ein Mörder;
er sprach mitunter wirres Zeug; er glaubte, irgend etwas Phosphoreszierendes
ströme durch seine Adern, weil ein Fernsehapparat ihm mitten in der Nacht einen
Stromstoß verpaßt hatte. Er klang nicht messianisch - sondern einfach bloß
wahnhaft.
Shay sah mich an. »Sie sollten jetzt
gehen«, sagte er, doch dann wurde er von dem Geräusch abgelenkt, als die Tür
zum Hof aufging. Aufseher Smythe führte den neuen Häftling in seine Zelle.
Der Neue war ein gewaltiger Muskelberg
mit einem tätowierten Hakenkreuz auf dem geschorenen Schädel. Die nachwachsenden
Haare überwucherten es allmählich wie Moos.
Die Zellentür fiel hinter dem Häftling
ins Schloss, und die Handschellen wurden ihm abgenommen. »So, dann ran an die
Arbeit, Sully«, sagte der Aufseher. Er stand an der Tür und schaute zu, wie
Sully langsam eine Sprühflasche nahm und das Waschbecken säuberte. Ich hörte
das Schaben von Papier auf Metall.
»Hey, Father Michael - haben Sie gestern
Abend das Spiel gesehen?«, sagte Aufseher Smythe und runzelte dann die Stirn.
»Sully, was soll das? Wieso fegen Sie denn -«
Plötzlich war der Besen in Sullys Händen
kein Besen mehr, sondern ein durchgebrochener Speer, den er dem Aufseher in die
Kehle stieß. Smythe griff sich an den Hals und röchelte. Seine Augen rollten in
den Höhlen nach hinten; er taumelte auf Shays Zelle zu. Als er neben mir
zusammenbrach, drückte ich beide Hände auf die Wunde und schrie um Hilfe.
Der ganze Block erwachte zum Leben. Die
Häftlinge tobten, wollten wissen, was passiert war. Dann war plötzlich Aufseher
Whitaker da und zerrte mich auf die Beine, löste mich ab, während ein Kollege
begann, Smythe zu beatmen. Vier weitere Aufseher eilten mit Pfefferspray an
mir vorbei und sprühten es Sully ins Gesicht. Sie zerrten ihn aus der Zelle,
und er schrie wie am Spieß, während sie ihn aus dem Block schleiften. Gleich
darauf war ein Arzt da, der Einzige, der so schnell zur Stelle sein konnte, ein
Psychiater, dem ich in der Strafanstalt schon mal begegnet war. Doch inzwischen
bewegte sich Smythe schon nicht mehr.
In dem ganzen Chaos schien keiner von mir
Notiz zu nehmen. Der Psychiater wollte an Smythes Hals nach einem Puls suchen,
doch er zog die Hand rasch wieder weg, glitschig vor Blut. Dann nahm er das
Handgelenk des Aufsehers und schüttelte nach einem Moment den Kopf. »Er ist
tot.«
Im ganzen Block war es still geworden.
Die Häftlinge starrten geschockt auf den Körper vor ihnen. Aus Smythes Hals
floss kein Blut mehr; er lag völlig reglos da. Im Kontrollraum rechts von mir
wurde hektisch geredet - die Rettungssanitäter, die zu spät eingetroffen waren,
wollten in den Zellentrakt. Die Tür ging auf, während sie sich noch die
Schutzwesten überzogen, dann knieten sie sich neben Smythes Körper und konnten,
wie schon der Psychiater vor ihnen, lediglich noch einmal seinen Tod feststellen.
Hinter mir hörte ich
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