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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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ist hinten in der Küche.«
    »Ich will Willie guten Tag sagen. Willie soll Mundharmonika spielen.«
    »Also, Baby, du bist wirklich unausstehlich«, sagte Lucile ungeduldig. »Du weißt doch genau, dass Willie nicht da ist. Willie ist im Gefängnis.«
    »Aber Louis kann auch Mundharmonika spielen«, sagte Biff. »Los, sag ihm, er soll das Erdbeereis fertigmachen, und dann kann er dir was vorspielen.«
    Baby ging zur Küche und kratzte dabei mit einem Schuh über den Boden.
    Lucile legte ihren Hut auf die Theke. In ihren Augen standen Tränen. »Weißt du, ich hab immer gesagt: Wenn ein Kind sauber und ordentlich und hübsch aussieht, dann ist es gewöhnlich auch brav und klug. Von einem schmutzigen und hässlichen Kind kann man das nicht erwarten. Was ich damit sagen will: Baby schämt sich so, weil sie ihre Haare verliert und weil sie diesen Verband trägt, dass sie deswegen die ganze Zeit so bockig ist. Sie will nichts aufsagen – nichts will sie. Ich werd einfach nicht mehr mit ihr fertig.«
    »Du solltest nicht so viel an ihr rumnörgeln, dann wär sie ganz in Ordnung.«
    Schließlich brachte er die beiden in einer Ecke am Fenster unter. Lucile aß das Tagesgericht, und Baby bekam feingeschnetzelte Hühnerbrust, Weizenbrot und Karotten. Sie stocherte im Essen herum und verschüttete Milch auf ihr Röckchen. Er saß bei ihnen, bis der Betrieb richtig losging. Dann musste er auf den Beinen sein, damit alles reibungslos lief.
    Lauter essende Leute. Weitaufgerissene Mäuler, in die Essen hineingestopft wurde. Wie hieß es doch gleich? Er hatte es erst vor kurzem gelesen: Im Leben ging es um nichts anderes als Nahrungsaufnahme, Lebensunterhalt und Fortpflanzung. Das Lokal war jetzt brechend voll. Im Radio spielte eine Swing-Band.
    Dann kamen die beiden, auf die er gewartet hatte. Singer trat als Erster ein, sehr aufrecht und elegant in seinem sonntäglichen Maßanzug. Blount folgte ihm auf den Fersen. Irgendetwas an ihrer Art zu gehen fiel Biff auf. Sie setzten sich an ihren Tisch; Blount redete und aß mit großem Appetit, während Singer ihm höflich zusah. Nach dem Essen standen sie noch ein paar Minuten an der Registrierkasse. Als sie dann gemeinsam das Lokal verließen, machte ihn wieder etwas stutzig. Was war das? Plötzlich tauchte eine Erinnerung aus seinem Unterbewusstsein auf, und er erschrak: der dicke, schwachsinnige Taubstumme, den er manchmal mit Singer auf dem Weg zur Arbeit gesehen hatte. Der schwabbelige Grieche, der bei Charles Parker die Süßigkeiten herstellte. Immer war der Grieche vorangegangen und Singer hinterher. Er hatte nie besonders auf sie geachtet, denn sie kamen nie in sein Lokal. Aber warum war ihm das nicht schon längst eingefallen? Sooft er über den Taubstummen nachgegrübelt hatte – daran hatte er nie gedacht. Er hatte den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Aber änderte das eigentlich etwas?
    Biff kniff die Augen zusammen. Es war ganz unwichtig, wie Singer früher gewesen war. Wichtig war, dass Blount und Mick ihn zu einer Art Hausgott gemacht hatten. In ihm, dem Taubstummen, konnten sie alles sehen, was sie sich wünschten. Ja, so war das. Aber wie kam so etwas Merkwürdiges zustande? Und warum?
    Ein Einarmiger kam herein; Biff spendierte ihm einen Whisky. Aber er hatte keine Lust, mit jemandem zu reden. Das Sonntagsessen war eine Familienangelegenheit. In der Woche tranken die Männer abends allein ihr Bier, aber sonntags brachten sie ihre Frauen und Kinder mit. Das hohe Kinderstühlchen, das im Hintergrund bereitstand, wurde häufig gebraucht. Es war halb drei; viele Tische waren besetzt, aber die Mahlzeit war fast vorüber. Biff war nun seit vier Stunden auf den Beinen und fühlte sich müde. Früher hatte er vierzehn oder sechzehn Stunden lang stehen können, ohne das Geringste zu spüren. Er war alt geworden. Sehr alt. Da gab es keinen Zweifel. Oder, vielleicht besser gesagt: gereift. Nicht gealtert – bestimmt nicht –, noch nicht. Die Geräusche im Raum brandeten in Wellen an seine Ohren und zogen sich dann wieder zurück. Gereift. Seine Augen schmerzten; ihm war, als sähe er wie im Fieber alles viel zu hell und viel zu scharf.
    Er rief der Kellnerin zu: »Vertreten Sie mich bitte! Ich bin unterwegs.«
    Es war Sonntag, und die Straße war verlassen. Die Sonne schien hell und klar, ohne zu wärmen. Biff hielt den Mantelkragen fest am Hals zusammen. So allein auf der Straße kam er sich wie ausgesetzt vor. Vom Fluss her wehte ein kalter Wind. Er sollte lieber

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