Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
umkehren und wieder in sein Lokal gehen, wo er hingehörte. Eigentlich hatte er dort, wo er jetzt hin wollte, nichts zu suchen. Seit vier Wochen tat er das nun jeden Sonntag: In der Hoffnung, Mick zu sehen, strich er um das Haus der Kellys herum. Und daran war etwas, das – nicht richtig war. Ja. Es war falsch.
Langsam ging er auf der anderen Straßenseite an ihrem Haus vorbei. Vorigen Sonntag hatte sie auf den Verandastufen gesessen und Witzblättchen angeschaut. Heute stellte er mit einem raschen Blick auf das Haus fest, dass sie nicht da war. Biff zog sich den Filzhut tief ins Gesicht. Vielleicht kam sie später ins Lokal. Sonntags kam sie oft nach dem Abendessen, trank eine Tasse heißen Kakao und setzte sich ein Weilchen zu Singer. Sie hatte dann nicht ihren blauen Alltagsrock und den Pullover an, sondern ein Sonntagskleid aus weinroter Seide mit einem winzigen Spitzenkragen. Einmal hatte sie sogar Strümpfe angehabt – mit vielen Laufmaschen. Er wünschte sich immer, ihr irgendwie helfen, ihr etwas schenken zu können. Nicht nur ein Eis oder Süßigkeiten – nein, ein richtiges Geschenk. Das war sein größter Wunsch: ihr etwas geben zu dürfen. Biff presste die Lippen zusammen. Er hatte nichts Unrechtes getan und fühlte sich doch seltsam schuldig. Warum? Die dunkle Schuld aller Menschen – die unfassbare, namenlose Schuld.
Auf dem Heimweg fand Biff zwischen den Abfällen im Rinnstein ein Fünfcentstück. Als sparsamer Mann hob er es auf, reinigte es mit dem Taschentuch und steckte es in sein schwarzes Portemonnaie. Um vier Uhr war er wieder im Restaurant. Es war nichts los, nicht ein Gast im Lokal.
Gegen fünf belebte sich das Geschäft wieder. Der Junge, den er neuerdings halbtags beschäftigte, war frühzeitig zur Stelle. Er hieß Harry Minowitz und wohnte in derselben Straße wie Mick und Baby. Auf Biffs Zeitungsannonce hatten sich elf Bewerber gemeldet, unter denen Harry der geeignetste zu sein schien. Ein ordentlicher Junge und für sein Alter recht weit. Biff waren beim Bewerbungsgespräch die Zähne des Jungen aufgefallen. An den Zähnen konnte man den Menschen erkennen. Harry hatte große, schneeweiß gepflegte Zähne. Er trug eine Brille, aber das machte bei dieser Arbeit nichts. Seine Mutter nähte für einen Schneider weiter unten in der Straße und verdiente sich damit wöchentlich zehn Dollar; Harry war ihr einziges Kind.
»Na, Harry«, sagte Biff, »du bist nun eine Woche bei mir. Was sagst du – gefällt’s dir?«
»Na, klar, Sir. Klar gefällt’s mir.«
Biff drehte an seinem Ring. »Lass mal sehen: Um wie viel Uhr kommst du aus der Schule?«
»Um drei, Sir.«
»Aha. Dann hast du ’n paar Stunden zum Ausruhen und für die Schularbeiten. Von sechs bis zehn bist du hier. Bleibt dir denn noch genug Zeit zum Schlafen?«
»Massenhaft. Ich brauch nicht so viel.«
»In deinem Alter brauchst du neuneinhalb Stunden, mein Sohn. Neuneinhalb Stunden gesunden, tiefen Schlaf.«
Er wurde plötzlich verlegen. Vielleicht dachte Harry, das ginge ihn nichts an. Tat es ja auch nicht. Er wollte sich schon abwenden, als ihm etwas einfiel.
»Gehst du in die Highschool?«
Harry nickte, während er seine Brille am Hemdsärmel putzte.
»Soso. Ich kenn da viele von den Jungs und Mädels. Alva Richards – bin mit seinem Vater gut bekannt. Dann Maggie Henry. Und dann diese Kleine – Mick Kelly…« Seine Ohren glühten. Er machte sich ja zum Narren. Er wollte sich wegdrehen, blieb aber lächelnd stehen und rieb sich mit dem Daumen die Nase. »Kennst du die?«, brachte er mühsam hervor.
»Klar, wir wohnen ja nebeneinander. Aber wir gehn nicht in dieselbe Klasse, ich bin ja schon in der Oberstufe, und sie hat grad erst angefangen.«
Biff hörte ganz genau zu, um später, wenn er allein war, darüber nachzudenken. »Wird wohl noch ’ne Weile ruhig bleiben«, sagte er hastig. »Kannst mich vertreten. Du weißt ja jetzt, wie’s gemacht wird. Wenn Bier getrunken wird, pass gut auf und merk dir, wie viel du ausgeschenkt hast. Verlass dich nicht darauf, was die Gäste sagen. Lass dir beim Geldwechseln Zeit und pass auf alles richtig auf.«
Biff schloss sich unten in dem Zimmer ein, in dem er seine Akten verwahrte. Das Zimmer hatte nur ein kleines Fenster zum Seitengässchen hinaus – muffig und kalt war es hier. Die Zeitungen türmten sich bis zur Decke. Die eine Wand war von einem selbstgemachten Aktenregal verstellt. Bei der Tür standen ein altmodischer Schaukelstuhl und ein kleiner Tisch mit
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