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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Schere, Lexikon und Mandoline. Der Zeitungsstapel wegen konnte man sich kaum zwei Schritte weit bewegen. Biff schaukelte in seinem Stuhl und klimperte träge auf der Mandoline. Dann schloss er die Augen und sang in schwermütigem Ton:
Zum Viehmarkt ging ich schnelle.
Die Tiere war’n zur Stelle,
Und auch der alte Pavian –
Der schwärmte still den Vollmond an
Und kämmte sich sein Felle.
    Der Schlussakkord verklang zitternd in der kalten Luft.
    Zwei kleine Kinder zu sich nehmen. Einen Jungen und ein Mädchen. Drei oder vier müssten sie sein, dann hätten sie immer das Gefühl, er wär ihr richtiger Vater. Ihr Papa. Vater unser. Das kleine Mädchen so wie Mick (oder wie Baby?). Runde Bäckchen, graue Augen, flachsblondes Haar. Die Kleider würde er selber nähen: Kleidchen aus rosa Crêpe de Chine mit zierlichen Fältchen an Passe und Ärmeln. Seidene Söckchen, weiße Wildlederschuhe. Und ein rotes Samtmäntelchen mit Mützchen und Muff für den Winter. Der Junge würde dunkelhäutig und schwarzhaarig sein und immer hinter ihm herlaufen und alles machen wollen, was er machte. Im Sommer würden sie alle drei an den Golf fahren und dort ein Häuschen mieten. Er würde den Kindern ihre Schwimmanzüge anziehen und sie behutsam in die grünen Meereswogen führen – dort, wo es ganz flach war. Und während sie heranwüchsen, würde er alt werden. Vater unser. Sie würden mit allerlei Fragen zu ihm kommen, und er würde alles beantworten.
    Warum denn nicht?
    Biff nahm wieder die Mandoline zur Hand. »Tum-ti-tim-ti-tie, ti-tie. Ein Püppchen wollte Hochzeit machen.« Er sang alle Strophen durch und wippte mit dem Fuß den Takt. Dann spielte er »K-K-K-Katie‹ und ›Love’s Old Sweet Song‹. Diese Melodien waren wie Agua Florida – sie weckten alte Erinnerungen. Alles kam zurück. Das erste glückliche Jahr, als auch sie glücklich zu sein schien. Als das Bett zweimal in drei Monaten unter ihnen zusammenkrachte. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie in Gedanken immerzu damit beschäftigt gewesen war, wo sie zehn Cent einsparen oder fünf Cent abknapsen könnte. Dann Rios Etablissement und die Mädchen dort. Gyp und Madeline und Lou. Dann später, als er plötzlich nicht mehr konnte. Als er nicht mehr bei einer Frau schlafen konnte. Großer Gott! Zuerst war ihm, als wäre nun alles vorbei.
    Lucile hatte immer begriffen, wie es um sie beide stand. Sie kannte ihre Schwester Alice. Vielleicht wusste sie auch über ihn Bescheid. Lucile hatte ihnen immer zugeredet, sich scheiden zu lassen, und hatte nach besten Kräften zwischen ihnen zu vermitteln versucht.
    Biff schreckte zusammen. Seine Hände ließen die Mandoline plötzlich los – mitten in der Melodie. Er richtete sich straff im Stuhl auf. Auf einmal lachte er leise vor sich hin. Wie kam er bloß darauf? Ach du liebes Gottchen! An seinem neunundzwanzigsten Geburtstag, da hatte Lucile gesagt, er möge doch bei ihr vorbeischauen, wenn er vom Zahnarzt käme. Er hatte sich auf eine kleine Aufmerksamkeit gefasst gemacht: eine Platte Kirschtörtchen oder ein hübsches Hemd. Sie empfing ihn an der Tür und verband ihm vor dem Eintreten die Augen. Dann sagte sie, sie käme gleich wieder. Er stand in dem stillen Zimmer, lauschte ihren Schritten, wie sie zur Küche ging. Mit verbundenen Augen mitten im Zimmer stehend, ließ er einen fahren – und merkte plötzlich zu seinem Schrecken, dass er nicht allein war. Er hörte Gekicher und gleich darauf ohrenbetäubendes, schallendes Gelächter. In diesem Augenblick kam Lucile zurück und nahm ihm die Augenbinde ab. In der Hand hielt sie eine Platte mit einem Karamelkuchen. Das Zimmer war voller Leute: Leroy mit der ganzen Clique und natürlich Alice. Er hätte die Wände hochgehen können. Schutzlos stand er da, das Gesicht von brennender Röte übergossen. Sie zogen ihn auf, und er nahm sich’s so zu Herzen, dass ihm eine Stunde lang fast so elend zumute war wie beim Tod seiner Mutter. Im Lauf des Abends trank er dann einen halben Liter Whisky. Und noch Wochen später… Heilige Muttergottes!
    Biff kicherte vor sich hin. Er zupfte ein paar Akkorde auf der Mandoline und stimmte einen forschen Cowboysong an. Er sang mit weicher Tenorstimme und schloss dabei die Augen. Im Zimmer war es fast dunkel. Er spürte die feuchte Kälte in allen Knochen, und seine rheumatischen Beine schmerzten.
    Schließlich legte er die Mandoline fort und blieb langsam schaukelnd im Dunkeln sitzen. Der Tod. Manchmal glaubte er zu spüren, dass er bei

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