Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
trotzdem.
Wenn sie’s ihm nur sagen könnte, dann wäre alles besser. Sie überlegte sich den Anfang: »Mister Singer – ich kenn da ein Mädchen, etwa so alt wie ich… Mister Singer, ich weiß nicht, ob Sie so was verstehn – Mister Singer… Mister Singer.« Wieder und wieder sagte sie seinen Namen vor sich hin. Sie liebte ihn mehr als irgendeinen von der Familie, sogar mehr als George oder ihren Papa. Das war eine andere Liebe, mit nichts zu vergleichen, was sie je im Leben gefühlt hatte.
Morgens, wenn sie sich anzogen, unterhielt sie sich mit George. Sie wünschte sich manchmal so sehr, ihm nahe zu sein. Er war gewachsen und sah blass und kantig aus. Sein weiches, rötliches Haar hing ihm unordentlich über die kleinen Ohren. Immer kniff er die Augen zusammen und bekam dadurch einen angestrengten Gesichtsausdruck. Seine zweiten Zähne kamen heraus, sie waren bläulich und standen genauso weit auseinander wie seine Milchzähne. Oft verzog er den Kiefer, weil er mit der Zunge einen schmerzenden neuen Zahn befühlte.
»Du, George«, sagte sie. »Hast du mich lieb?«
»Klar hab ich dich lieb.«
Es war ein heißer, sonniger Morgen kurz vor den Sommerferien. George war schon angezogen, lag auf dem Fußboden und machte seine Rechenaufgaben. Mit seinen schmutzigen kleinen Fingern drückte er beim Schreiben so fest auf, dass die Bleistiftspitze mehrmals abbrach. Als er fertig war, nahm sie ihn bei den Schultern und sah ihn eindringlich an. »Ich meine: Hast du mich sehr lieb? Ganz furchtbar sehr?«
»Lass mich los. Klar hab ich dich lieb. Bist doch meine Schwester.«
»Weiß ich. Aber wenn ich nun nicht deine Schwester wär? Hättest du mich dann auch lieb?«
George versuchte sich von ihr zu lösen. Alle seine Hemden waren in der Wäsche, und er trug einen schmutzigen Pullover. An seinen mageren Handgelenken sah man die bläulichen Adern. In den ausgeleierten Ärmeln des Pullovers wirkten seine Hände besonders klein.
»Wenn du nicht meine Schwester wärst, würd ich dich ja vielleicht nicht kennen und könnt dich dann auch nicht liebhaben.«
»Aber wenn du mich doch kennen würdest, und ich wär nicht deine Schwester?«
»Wieso sollt ich dich kennen? Das kann man nicht beweisen.«
»Also, nimm doch mal an, du würdest mich kennen.«
»Wahrscheinlich hätt ich dich ganz gern. Aber das kann man ja gar nicht beweisen…«
» Beweisen! An dem Wort scheinst du ’nen Narren gefressen zu haben. Beweisen und Kunststück. Bei dir ist alles entweder ’n Kunststück, oder man muss es beweisen. Ich kann dich nicht ausstehen, George Kelly. Ich hasse dich.«
» O. K. Dann mag ich dich jetzt auch nicht mehr.« Er kroch unters Bett und suchte etwas.
»Was hast du da zu suchen? Lass bloß die Finger von meinen Sachen. Wenn ich dich erwische, dass du in meiner Schachtel rumschnüffelst, dann hau ich dich mit dem Kopf an die Wand. Jawohl, das mach ich. Und zermatsch dir das Gehirn.«
George kam mit seiner Fibel unterm Bett hervorgekrochen. Seine schmutzige kleine Hand suchte nach dem Loch in der Matratze, wo er seine Murmeln versteckt hatte. Der Kleine war durch nichts zu erschüttern. Seelenruhig wählte er die drei braunen Achatkugeln aus, die er mitnehmen wollte. »Ach, gib nicht so an, Mick«, antwortete er. George war zu klein und zu stur. Es war zwecklos, ihn zu lieben. Er wusste noch weniger Bescheid als sie.
Dann begannen die Ferien. Mick hatte in allen Fächern bestanden – in manchen sehr gut, in manchen nur so gerade eben. Die Tage waren lang und heiß. Endlich konnte sie wieder fleißig an ihrer Musik arbeiten. Sie begann, Stücke für Geige und Klavier zu schreiben. Und Lieder. Die Musik beschäftigte sie immerzu. Sie hörte Radio bei Mister Singer, und wenn sie danach im Haus herumwanderte, dachte sie an das, was sie gehört hatte.
»Was ist denn bloß mit Mick los?«, fragte Portia. »Ist sie auf den Mund gefallen? Läuft rum und sagt nicht ein Wort. Nicht mal essen tut sie so viel wie früher. Sie wird noch ’ne richtige Dame.«
Es war, als warte sie auf irgendetwas – aber sie wusste nicht, worauf. Die Sonne brannte grell und weißglühend auf die Straßen. Wenn sie sich nicht um die Kleinen kümmern musste, arbeitete sie den ganzen Tag über an ihrer Musik. Und wartete. Manchmal blickte sie sich hastig nach allen Seiten um, und die panische Angst war wieder da. Bis plötzlich gegen Ende Juni etwas geschah – etwas so Wichtiges, dass sich damit alles änderte.
An dem Abend waren sie
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