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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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schwere Last von den Schultern genommen. Lachend und plaudernd saßen sie im Dunkeln. Ihr Papa zeigte George ein Kunststück mit einem Streichholz und einem Taschentuch. Dann ließ er den Jungen im Eckladen für fünfzig Cent Coca-Cola holen, die sie nach dem Essen trinken wollten. Der Kohlgeruch wurde immer stärker, dazu kam der Duft von gebratenen Schweinskoteletts. Portia rief zum Essen. Die Pensionsgäste saßen schon um den Tisch. Mick aß heute mit im Esszimmer. Die Kohlblätter lagen gelb und lappig auf ihrem Teller – sie brachte keinen Bissen herunter. Als sie nach dem Brot langte, stieß sie die Teekanne um, so dass der eisgekühlte Tee sich über den Tisch ergoss.
    Später stand sie allein auf der Veranda und wartete auf Mister Singer. Sie sehnte sich verzweifelt danach, ihn zu sehen. Die Aufregung von vorhin war verschwunden, ihr war richtig übel. Sie würde im Warenhaus arbeiten – und das wollte sie doch gar nicht. Es war, als ob sie in eine Falle geraten wäre. Diese Stelle würde nicht nur für den Sommer sein – nein, für lange Zeit, für so lange, wie sie überhaupt denken konnte. Wenn die sich erst einmal an das Geld, das sie verdiente, gewöhnt hatten, würden sie nie mehr darauf verzichten können. So war das jetzt. Sie stand, an die Brüstung geklammert, im Dunkeln. Eine lange Zeit verging, aber Mister Singer kam immer noch nicht. Um elf Uhr ging sie los, um ihn zu suchen. Aber plötzlich fürchtete sie sich im Dunkeln und lief wieder nach Hause.
    Am nächsten Morgen nahm sie ein Bad und kleidete sich sorgfältig an. Hazel und Etta besorgten ihr etwas zum Anziehen und putzten sie hübsch heraus. Sie trug Hazels grünes Seidenkleid, einen grünen Hut, Seidenstrümpfe und hochhackige Pumps. Die Schwestern schminkten sie mit Rouge und Lippenstift und zupften ihr die Augenbrauen zurecht. Schließlich sah sie mindestens wie sechzehn aus.
    Es war zu spät – jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie war richtig erwachsen und bereit, ihren Unterhalt zu verdienen. Trotzdem – wenn sie zu ihrem Papa ginge und ihm sagte, wie ihr zumute war, dann würde er sicher sagen, sie solle noch ein Jahr warten. Und Hazel und Etta, Bill und ihre Mama – sie alle würden auch jetzt noch sagen, sie müsse nicht hingehen. Das ging aber nicht. Sie wollte sich keine Blöße geben. Sie ging zu Mister Singer hinauf. Ihre Worte überstürzten sich:
    »Hören Sie – ich werd diese Stelle sicher kriegen. Was meinen Sie? Halten Sie das für richtig? Finden Sie’s in Ordnung, wenn ich jetzt von der Schule abgehe und arbeite? Finden Sie das richtig?«
    Zuerst verstand er sie nicht. Er hielt die grauen Augen halb geschlossen und die Hände tief in den Taschen vergraben. Da war wieder das alte Gefühl, als warteten sie darauf, einander Dinge zu sagen, die noch nie jemand gesagt hatte. Was sie jetzt zu sagen hatte, war nicht viel. Aber was er zu sagen hätte – es würde richtig sein. Und wenn er sagte, es sei in Ordnung mit dieser Stelle, dann würde sie ein besseres Gefühl dabei haben. Langsam wiederholte sie ihre Worte und wartete«.
    »Finden Sie das richtig?«
    Mister Singer überlegte. Dann nickte er.
    Sie bekam die Stelle. Der Geschäftsführer führte sie und Hazel nach hinten in ein kleines Büro und redete mit ihnen. Hinterher wusste sie weder, wie der Geschäftsführer aussah, noch, was sie miteinander besprochen hatten. Sie wurde eingestellt. Beim Hinausgehen kaufte sie für zehn Cent Schokolade und einen kleinen Knetkasten für George. Am fünften Juni sollte sie mit der Arbeit anfangen. Sie stand lange vor dem Fenster von Mister Singers Juwelierladen. Dann wartete sie an der Ecke auf ihn.
    15
     
    Für Singer war es wieder an der Zeit, zu Antonapoulos zu fahren. Obwohl die Freunde keine dreihundertfünfzig Kilometer voneinander entfernt waren, dauerte die Reise sehr lange: Die gewundene Bahnstrecke führte an vielen abgelegenen Orten vorbei, und der Nachtzug hielt an mancher Station stundenlang. Wenn Singer nachmittags abreiste, kam er erst am frühen Morgen des nächsten Tages an. Seine Vorbereitungen hatte er, wie jedes Mal, schon längst getroffen. Diesmal wollte er eine ganze Woche bei seinem Freund bleiben. Seine Anzüge waren gereinigt, sein Hut aufgebügelt, seine Koffer gepackt. Die Geschenke waren in farbiges Seidenpapier verpackt; dazu kamen noch ein in Zellophan gehüllter Korb mit feinstem Obst und ein Kistchen frische Erdbeeren. Am Morgen vor der Abreise machte Singer sein Zimmer sauber. Im

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