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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Eisschrank fand er einen Rest Gänseleber, den er im Seitengässchen für die Nachbarskatze hinlegte. Wie bei seinen früheren Reisen heftete er einen Zettel an seine Tür, dass er sich mehrere Tage auf einer Geschäftsreise befinde. Alle Vorbereitungen erledigte er in gemessener Ruhe; seine Wangen waren lebhaft gerötet, sein Gesichtsausdruck ernst und feierlich.
    Endlich war die Zeit der Abfahrt gekommen. Mit Koffern und Geschenken beladen, sah er auf dem Bahnsteig dem einfahrenden Zug entgegen. Er suchte sich einen Sitzplatz und verstaute seine Sachen im Gepäcknetz. Der Wagen war überfüllt, hauptsächlich Mütter und Kinder saßen dort. Das grüne Plüschpolster roch nach Ruß. Die Wagenfenster waren schmutzig, und der Boden war mit Reiskörnern übersät, die einem Hochzeitspaar nachgeworfen worden waren. Singer lächelte seinen Mitreisenden freundlich zu; dann lehnte er sich in seinen Sitz zurück und schloss die Augen. Seine langen Wimpern lagen dunkel über den eingefallenen Wangen. Seine rechte Hand zuckte nervös in der Tasche.
    Eine Zeitlang verweilten seine Gedanken noch in der Stadt, die hinter ihm lag. Die Gesichter von Mick und Doktor Copeland, von Jake Blount und Biff Brannon tauchten aus dem Dunkel auf und bedrängten ihn. Der Streit zwischen Blount und dem Neger fiel ihm ein. Worum es in diesem Streit gegangen war – das hatte sich in seinem Kopf hoffnungslos verwirrt. Sie hatten einander immer wieder wütend beschimpft. Er hatte mal dem einen, mal dem anderen recht gegeben, obwohl er keine Ahnung hatte, was er eigentlich gutheißen sollte. Und Mick – die hatte ihn so flehend angesehen und ihn mit Worten überschüttet, von denen er nicht das Geringste verstanden hatte. Dann dieser Biff Brannon im Café New York. Brannon mit dem dunklen, großen Kinn und den Luchsaugen. Und die fremden Leute, die ihm auf der Straße nachliefen und ihn aus unerfindlichen Gründen festhielten: der Türke in seinem Wäscheladen, der ihm mit den Händen vor dem Gesicht herumfuchtelte und ein Kauderwelsch von sich gab, wie Singer es noch nie vernommen hatte; ein Vorarbeiter aus einer Fabrik und eine alte Negerin; ein Kaufmann in der Hauptstraße und ein kleiner Knirps, der Soldaten ansprach, um sie in ein Bordell unten am Fluss zu locken. Singer schüttelte sich vor lauter Überdruss. Das Ruckeln des Zuges wiegte ihn sanft und behaglich hin und her. Der Kopf sank ihm auf die Schulter, und er schlief ein.
    Als er wenig später die Augen aufschlug, lag die Stadt schon weit zurück: Er hatte sie vergessen. Draußen, hinter dem schmutzigen Fenster, flog die strahlende Hochsommerlandschaft vorüber. Die Sonne brannte in schrägen, bronzefarbenen Strahlen auf die frischgrünen Baumwollfelder herab. Dann kamen Tabakpflanzungen mit ihren üppig grünen Stauden, die wie unförmige Urwaldgewächse anmuteten, Pfirsichplantagen, deren Zwergbäume sich unter der Last saftiger Früchte bogen. Meilenweite Strecken von Weideland und noch weitere Strecken öden Brachlands, auf dem das Unkraut wucherte. Der Zug fuhr durch dichte, grüne Kiefernwälder, wo der Boden mit braunen Nadeln bedeckt war und die Baumkronen hoch in den Himmel ragten. Weiter südlich dann Zypressensümpfe mit knorrig gekrümmtem Wurzelwerk im seichten Wasser, mit grauen, moosbehangenen Zweigen und tropischen Blumen im feuchten Dickicht. Dann ging es wieder hinaus ins freie Land, in die Sonne, unter den indigoblauen Himmel.
    Ernst und furchtsam saß Singer am Fenster und blickte hinaus. Der weite Raum, die starken, urtümlichen Farben draußen – all das war beinah zu viel für seine Augen. Dieser kaleidoskopartige Szenenwechsel, das Übermaß von üppigem Wachstum und Farbenpracht schien auf eine gewisse Weise mit seinem Freund verbunden. Seine Gedanken waren bei Antonapoulos, und die Vorfreude auf das nahe Wiedersehen drohte ihn zu ersticken. Die Nase wurde ihm zu eng, er atmete in raschen, kurzen Stößen durch den halbgeöffneten Mund.
    Antonapoulos würde sich über sein Kommen freuen. Das frische Obst und die Geschenke würden ihm schon gefallen. Gewiss würde er nicht mehr im Krankensaal liegen, er würde mit ihm ins Kino gehen können und hinterher in das Hotel, in dem sie bei seinem ersten Besuch gegessen hatten. Viele Briefe hatte Singer an Antonapoulos geschrieben, aber keinen hatte er abgeschickt. Nun gab er sich ganz den Gedanken an seinen Freund hin.
    Das halbe Jahr, das seit seinem letzten Besuch verstrichen war, erschien ihm weder kurz noch

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