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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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bis New Orleans zu Fuß gegangen.
    Wegen Etta musste Mick immer noch im Wohnzimmer schlafen. Auf dem kurzen Sofa lag sie so unbequemen, dass sie den versäumten Schlaf in der Schule nachholen musste. Jede zweite Nacht tauschte sie mit Bill und schlief bei George. Dann gab es eine glückliche Wendung: Oben zog ein Mieter aus. Als sich nach einer Woche niemand auf die Zeitungsannonce gemeldet hatte, erlaubte Mama Bill, in das leerstehende Zimmer hinaufzuziehen. Bill fand es herrlich, abseits von der Familie ein Zimmer für sich allein zu haben. Mick schlief bei George. Er lag ruhig atmend wie ein warmes junges Kätzchen neben ihr.
    Die Nächte nahmen eine neue Gestalt an, es war anders als im letzten Sommer, als sie allein durch die Dunkelheit gelaufen war, Musik gehört und Pläne geschmiedet hatte. Sie lag im Bett und konnte nicht schlafen. Eine seltsame Angst war in ihr, als ob die Zimmerdecke sich langsam auf ihr Gesicht herabsenkte. Wenn nun das Haus einstürzte? Ihr Papa hatte einmal gesagt, das ganze Haus müsste dem Erdboden gleichgemacht werden. Meinte er vielleicht, eines Nachts, wenn sie alle schliefen, würden die Wände bersten? Und sie alle würden unter Schutt und Scherben und Möbeltrümmern begraben werden, so dass sie sich weder rühren noch atmen könnten? Schlaflos, mit verkrampften Muskeln lag sie im Bett. Irgendwo in der Nacht knarrte es. Ging da jemand – noch einer, der nicht schlafen konnte –, vielleicht Mister Singer?
    An Harry dachte sie nie. Sie hatte beschlossen, ihn zu vergessen, und sie vergaß ihn. Er schrieb, dass er in einer Garage in Birmingham Arbeit gefunden habe. Sie schickte ihm als Antwort eine Karte mit › O. K. ‹, so wie sie es verabredet hatten. Er schickte seiner Mutter jede Woche drei Dollar. Seit ihrem Ausflug in den Wald schien eine sehr lange Zeit vergangen zu sein.
    Tagsüber nahm die äußere Welt sie in Anspruch. Nachts aber war sie allein im Dunkeln, da half selbst das Rechnen nicht. Sie sehnte sich nach einem Menschen. Sie versuchte George wachzuhalten. »Wach bleiben und im Dunkeln schwatzen macht doch solchen Spaß. Komm, wir wollen uns was erzählen.«
    Ein schläfriges Brummen war die Antwort.
    »Sieh mal die Sterne draußen vorm Fenster. Kannst du dir vorstellen, dass jedes einzelne Sternchen ein Planet ist, so groß wie die Erde?«
    »Woher weiß man das?«
    »Das weiß man eben. Man kann’s ausrechnen. Das ist Wissenschaft.«
    »Glaub ich nicht.«
    Sie wollte ihn wütend machen und mit ihm streiten, damit er nicht einschliefe. Er ließ sie einfach reden und schien gar nicht zuzuhören. Nach einer Weile sagte er:
    »Sieh mal, Mick! Der Ast da! Sieht der nicht aus wie so ’n alter Pilgervater, der so daliegt mit ’nem Gewehr in der Hand?«
    »Stimmt. Sieht genauso aus. Und da die Flasche auf der Kommode: Sieht die nicht aus wie ’n lustiger Mann mit einem Hut?«
    »Nee«, sagte George. »Sieht kein bisschen so aus.«
    Sie nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das am Boden stand. »Lass uns was spielen – das Namenspiel. Du darfst anfangen. Denk dir was aus – was du willst.«
    Er zog die kleinen Fäuste hoch, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig: Gleich würde er einschlafen.
    »Komm schon, George!«, sagte sie. »Macht doch Spaß. Mein Name fängt mit M an. Rate mal – wer bin ich?«
    George seufzte und fragte schläfrig: »Harpo Marx?«
    »Nein. Ich hab nichts mit Film zu tun.«
    »Dann weiß ich nicht.«
    »Das weißt du wohl. Ich fang mit M an und leb in Italien. Das musst du raten.«
    George drehte ihr den Rücken zu, rollte sich zusammen und antwortete nicht.
    »Ich fange mit M an, aber manchmal nennen sie mich auch mit einem Namen, der mit D anfängt. In Italien. Das kannst du doch raten.«
    Im Zimmer war es still und dunkel. George war eingeschlafen. Sie zwickte ihn und kniff ihn ins Ohr. Er brummte, wachte aber nicht auf. Sie drängte sich dicht an ihn und drückte ihr Gesicht an seine heiße, nackte kleine Schulter. Nun würde er die ganze Nacht durchschlafen, während sie im Kopf Dezimalaufgaben löste.
    Ob Mister Singer in seinem Zimmer oben noch wach war? Kam das Knarren in der Decke daher, dass er leise auf und ab ging, während er kalte Orangeade trank und über die Schachfiguren auf seinem Tisch nachdachte? Ob der je diese schreckliche Angst gehabt hatte? Nein. Der hatte nie etwas Unrechtes getan. Nie hatte er etwas Unrechtes getan, und deshalb brauchte er nachts kein Herzklopfen zu haben. Aber verstehen würde er’s

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