Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
den fremden Ländern war es noch lange, lange hin. Was blieb ihr also?
Nur Mister Singer. Am liebsten wäre sie ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Wenn er morgens zur Arbeit ging, passte sie ihn ab und lief ihm einige Straßen weit hinterher. Nachmittags nach der Schule lauerte sie ihm an der Straßenecke auf, neben der seine Werkstatt lag. Um vier Uhr kam er heraus, um eine Coca-Cola zu trinken. Sie sah ihn über die Straße in den Drugstore gehen und nach einer Weile wieder herauskommen. Sie folgte ihm auf seinem Heimweg, manchmal sogar auf seinen Spaziergängen, immer mit großem Abstand. Er bemerkte sie nicht.
Sie besuchte ihn in seinem Zimmer. Vorher schrubbte sie sich Gesicht und Hände und betupfte ihr Kleid mit Vanille. Nur zweimal wöchentlich ging sie zu ihm, um ihm nicht lästig zu werden. Wenn sie die Tür aufmachte, saß er fast immer vor seinem komischen, hübschen Schachspiel. Und dann war sie bei ihm.
»Mister Singer, haben Sie mal an einem Ort gewohnt, wo’s im Winter schneit?«
Er kippte seinen Stuhl nach hinten gegen die Wand und nickte.
»In einem andern Land – im Ausland?«
Er nickte wieder und schrieb mit seinem silbernen Bleistift etwas auf. Einmal war er von Detroit über den Fluss nach Ontario in Kanada gefahren. Kanada lag so hoch im Norden, dass die Häuser bis zum Dach weiß eingeschneit waren. Kanada – da floss der Sankt-Lorenz-Strom, und da hatte einmal eine Frau Fünflinge bekommen. Dort sprachen die Leute auf der Straße Französisch. Und ganz oben im Norden gab es dichte, dunkle Wälder und weiße, vereiste Eskimohütten. Die Arktis mit ihrem herrlichen Nordlicht.
»Wie Sie in Kanada waren, haben Sie da auch Neuschnee mit Sahne und Zucker gegessen? Ich hab mal gelesen, das schmeckt richtig gut.«
Er legte fragend den Kopf zur Seite; er hatte sie nicht verstanden. Sie mochte die Frage nicht wiederholen, weil sie ihr plötzlich albern vorkam. Sie sah ihn nur an und wartete. Hinter ihm, an der Wand zeichnete sich groß und schwarz der Schatten seines Kopfes ab. Der elektrische Ventilator brachte ein wenig Kühlung. Es war ganz still. Als warteten sie darauf, einander Dinge zu sagen, die noch nie gesagt worden waren. Was sie zu sagen hatte, war entsetzlich und beängstigend. Er aber würde ihr die reine Wahrheit sagen und damit alles wieder in Ordnung bringen. Vielleicht ließ sich diese Wahrheit weder aussprechen noch aufschreiben. Vielleicht musste er sie ihr auf andere Weise zu verstehen geben. Dieses Gefühl hatte sie bei ihm.
»Ich fragte bloß was wegen Kanada – war aber nicht so wichtig, Mister Singer.«
Unten bei der Familie gab es nichts als Ärger. Etta war immer noch so krank, dass sie nicht zu dritt im Bett schlafen konnten. Die Jalousien waren heruntergelassen; es roch abscheulich in dem dunklen Zimmer. Etta hatte ihre Stellung verloren, und das bedeutete einen Ausfall von acht Dollar wöchentlich – von der Arztrechnung ganz zu schweigen. Ralph hatte sich in der Küche am heißen Herd verbrannt; seine Hände juckten unter dem Verband, und man musste ständig aufpassen, dass er sich die Brandblasen nicht aufkratzte. George hatte zum Geburtstag ein Fahrrad bekommen – ein kleines rotes Fahrrad mit einer Klingel und einem Korb an der Lenkstange. Die ganze Familie hatte etwas dazu beigesteuert. Als Etta ihre Stellung verlor, konnten sie nicht weiter dafür zahlen, und als zwei Wochenraten überfällig waren, wurde das Rad wieder abgeholt. George stand dabei, als der Mann das Fahrrad die Verandastufen hinunterschob, und versetzte dem hinteren Schutzblech im Vorübergehen einen Tritt. Dann schloss er sich im Kohlenschuppen ein.
Geld, Geld, Geld hieß es den ganzen Tag. Sie hatten Schulden beim Kaufmann, und die letzte Rate für die Möbel war nicht bezahlt. Seit das Haus ihnen nicht mehr gehörte, waren sie auch mit der Miete im Rückstand. Die sechs Zimmer standen nie leer, aber kein Pensionsgast zahlte pünktlich.
Eine Zeitlang ging Paps täglich auf Arbeitssuche. Zimmermannsarbeit kam für ihn nicht mehr in Frage, weil er panische Angst bekam, wenn er höher als drei Meter hinaufsteigen musste. Er bewarb sich um verschiedene Stellen, wurde aber nirgends genommen. Schließlich hatte er eine Idee.
»Reklame – das ist’s, Mick«, sagte er. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass unbedingt etwas geschehen muss. Ich muss Reklame machen. Ich muss rumgehn und bekanntmachen, dass ich Uhren repariere, und zwar gut und günstig. Du wirst schon sehn. Ich bau das
Weitere Kostenlose Bücher