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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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lang. In jedem wachen Augenblick war sein Freund um ihn gewesen. Diese untergründige Gemeinschaft mit Antonapoulos hatte allmählich eine Form und ein Ausmaß angenommen, als wären sie tatsächlich beisammen. Manchmal dachte er ehrfürchtig und demütig an Antonapoulos, zuweilen auch mit Stolz – immer aber mit einer unbedingten Liebe, die sich seinem Willen entzog. In seinen nächtlichen Träumen sah er immer wieder das Gesicht des Freundes vor sich – mächtig, gütig und weise. Und im Wachen fühlte er sich auf ewig mit ihm verbunden.
    Langsam wurde es Abend. Die Sonne versank hinter den Gipfeln einer fernen Baumreihe, der Himmel verfärbte sich, und ein schläfrig-mildes Zwielicht breitete sich aus. Während am Horizont noch flache Purpurwolken lagerten, stieg bleich der Vollmond auf. Langsam legte sich die Dunkelheit über Erde und Bäume und die schlichten ländlichen Behausungen. Von Zeit zu Zeit zuckte fernes Wetterleuchten auf. Singer verfolgte alles aufmerksam, bis es schließlich Nacht war und ihm aus dem Fensterglas sein eigenes Spiegelbild entgegensah.
    Kinder stolperten durch den Wagen, Papierbecher in der Hand, aus denen das Wasser schwappte. Singer gegenüber saß ein alter Mann im Overall, der hin und wieder einen Schluck Whisky aus einer Coca-Cola-Flasche nahm. Zwischen den einzelnen Schlucken verschloss er die Flasche sorgfältig mit einem Papierpfropfen. Ein kleines Mädchen rechts von Singer verklebte sich das Haar mit einer roten Zuckerstange. Proviantpakete wurden geöffnet, Tabletts mit dem Abendessen aus dem Speisewagen geholt. Singer aß nichts. Er saß zurückgelehnt auf seinem Platz und nahm seine Umgebung nur flüchtig wahr. Schließlich wurde es still im Wagen. Die Kinder lagen schlafend auf den breiten Plüschsitzen, während es sich die Erwachsenen mit Kissen möglichst bequem machten.
    Singer fand keinen Schlaf. Das Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt, schaute er angestrengt in die Nacht hinaus. Die Dunkelheit war wie schwerer Samt. Zuweilen glitt ein Flecken Mondlicht vorüber oder ein Lichtschimmer aus einem Haus. Am Stand des Mondes erkannte er, dass der Zug jetzt nicht mehr südwärts, sondern nach Osten fuhr. Er war so voller Vorfreude, dass er kaum durch die Nase atmen konnte. Fast während der ganzen langen Nachtfahrt saß er so da, die glühende Wange an die kalte, schmutzige Fensterscheibe gepresst.
    Der Zug hatte über eine Stunde Verspätung, so dass es schon heller Morgen war, als sie ankamen. Singer ging unverzüglich ins Hotel – ein sehr gutes Hotel, in dem er ein Zimmer reserviert hatte. Er packte seine Koffer aus und legte die Geschenke für Antonapoulos auf dem Bett zurecht. Er ließ sich vom Hotelpagen die Speisekarte bringen und stellte ein opulentes Frühstück zusammen: gebratene Makrelen, Maisbrei, getoastetes Weißbrot und heißen schwarzen Kaffee. Nach dem Frühstück legte er sich halb ausgezogen aufs Bett und ruhte sich im kühlen Luftzug des Ventilators aus. Gegen Mittag begann er sich fertigzumachen. Er nahm ein Bad, rasierte sich und zog frische Wäsche an und seinen besten Leinenanzug. Die Besuchszeit in der Anstalt begann um drei Uhr. Es war Dienstag, der achtzehnte Juli.
    In der Anstalt suchte er Antonapoulos zunächst auf der Krankenstation, wo er bei seinem letzten Besuch gelegen hatte. Aber schon als er in der Tür stand, sah er, dass sein Freund nicht dort war. Dann fragte er sich durch die verschiedenen Korridore zu dem Büro durch, in das man ihn damals geführt hatte. Eine Karte mit der Frage nach Antonapoulos trug er bei sich. Hinter dem Schreibtisch saß nicht die Dame vom letzten Mal, sondern ein sehr junger Mann mit einem kindlich-unreifen Gesicht und dichtem glattem Haar. Singer reichte ihm die Karte und blieb, wegen der Pakete in seinen Armen, leicht schwankend stehen.
    Der junge Mann schüttelte den Kopf, beugte sich über den Schreibtisch und kritzelte etwas auf einen Block. Singer las – und mit einem Schlag wich alle Farbe aus seinen Wangen. Lange starrte er mit gesenktem Kopf auf das Geschriebene. Auf dem Zettel stand, dass Antonapoulos tot sei.
    Auf dem Rückweg ins Hotel achtete er sorgfältig darauf, das mitgebrachte Obst nicht zu zerdrücken. Er brachte die Pakete in sein Zimmer und ging hinunter in die Lobby. Dort stand hinter einer Topfpalme ein Spielautomat. Er warf ein Fünfcentstück ein, merkte aber, als er an dem Handgriff ziehen wollte, dass der Apparat gesperrt war. Er beschwerte sich wütend beim Portier. Sein

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