Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Bett. Er hatte keine Ahnung, wieso der Restaurantbesitzer, dem er so viel Geld schuldete, den Koffer rausgerückt hatte. Seine Bücher, ein weißer Anzug und ein paar Hemden lagen darin, so wie er sie eingepackt hatte. Rasch begann er sich anzuziehen.
Als er fertig war, stand eine Kaffeemaschine auf dem Tisch. Der Mann langte nach seiner Jacke, die über einer Stuhllehne hing, und zog aus der Tasche eine Karte, die Jake neugierig entgegennahm. Auf die Karte war der Name des Mannes gedruckt – JOHN SINGER –, und darunter stand in Tinte, aber gestochen scharf wie der Name:
Ich bin taubstumm, kann aber von den Lippen ablesen und alles verstehen. Bitte nicht schreien.
Vor Schreck wurde es Jake ganz schummrig im Kopf. Sie sahen einander an.
»Wie lange ich wohl gebraucht hätte, um das rauszukriegen«, sagte er.
Singer schaute ihm, wenn er sprach, sehr aufmerksam auf die Lippen – das war ihm bereits aufgefallen. Aber dass er taubstumm war!
Sie setzten sich an den Tisch und tranken heißen Kaffee aus blauen Tassen. Im Zimmer war es kühl; die halbgeschlossenen Jalousien dämpften das grelle Licht. Aus dem Schrank holte Singer eine Blechbüchse mit einem Laib Brot, einige Orangen und Käse. Er aß nicht viel und lehnte sich, eine Hand in der Tasche, in seinem Stuhl zurück. Jake aß gierig. Er würde bald weggehen und über alles nachdenken müssen. Solange er keine Bleibe hatte, musste er sich möglichst schnell nacheiner Arbeit umsehen. Das Zimmer war zu friedlich und behaglich, um sich dort Sorgen zu machen – er würde weggehen und eine Weile allein spazieren gehen.
»Gibt’s hier noch mehr Taubstumme?«, fragte er. »Hast du viele Freunde?«
Singer lächelte. Er hatte nicht verstanden, und Jake musste seine Worte wiederholen. Singer hob die feinen, dunklen Augenbrauen und schüttelte den Kopf.
»Dann bist du wohl einsam?«
Der Mann schüttelte den Kopf – es hätte genauso gut ja wie nein bedeuten können. Ein Weilchen saßen sie sich schweigend gegenüber; dann stand Jake auf, um zu gehen. Er dankte Singer mehrmals für das Nachtquartier, indem er jedes Wort deutlich artikulierte, damit der andere ihn auch bestimmt verstehe. Aber der Taubstumme lächelte nur wieder und zuckte mit den Schultern. Als Jake ihn fragte, ob er seinen Koffer ein paar Tage unter dem Bett stehenlassen könne, nickte der Taubstumme.
Dann nahm Singer die Hände aus den Taschen, schrieb sorgfältig mit einem silbernen Bleistift etwas auf einen Schreibblock und schob ihn Jake hin.
Ich kann eine Matratze auf den Boden legen. Du kannst hierbleiben, bis Du ein Zimmer gefunden hast. Ich bin fast den ganzen Tag weg. Es macht gar keine Umstände.
Jake fühlte, wie seine Lippen vor Dankbarkeit zitterten. Das konnte er unmöglich annehmen. »Vielen Dank«, sagte er. »Ich hab schon ein Zimmer.«
Als er ging, reichte der Taubstumme ihm seinen fest zusammengerollten Overall und fünfundsiebzig Cent. Der Overall war ganz verdreckt; bei seinem Anblick überfielen Jake plötzlich die Erinnerungen an die vergangene Woche. Das Geld, gab Singer ihm zu verstehen, habe in den Taschen gesteckt.
»Adios«, sagte Jake. »Bin bald wieder zurück.«
Der Taubstumme blieb, die Hände wieder in den Taschen, mit seinem halben Lächeln in der Tür stehen. Als Jake ein paar Stufen hinabgegangen war, drehte er sich um und winkte. Der Taubstumme winkte zurück und schloss die Tür.
Die plötzliche Helligkeit draußen blendete ihn. Auf dem Gehsteig vor dem Haus konnte er zunächst nichts richtig erkennen. Auf der Brüstung vor dem Haus saß ein Mädchen. Die hatte er irgendwo schon mal gesehen. Die Jungshosen, die sie anhatte, und die Art, wie sie die Augen zusammenkniff, kamen ihm bekannt vor.
Er hielt ihr den zusammengerollten, schmutzigen Overall hin. »Ich will das wegwerfen. Weißt du, wo hier ein Mülleimer ist?«
Die Kleine sprang von der Brüstung. »Im Hinterhof. Ich zeig’s Ihnen.«
Er folgte ihr durch den feuchten, schmalen Gang, der am Haus entlangführte. Im Hinterhof sah Jake auf den Stufen zur Hintertür zwei Neger sitzen. Beide trugen weiße Anzüge und weiße Schuhe. Der eine Neger war sehr groß; sein Schlips und seine Socken waren knallgrün. Der andere war ein mittelgroßer, heller Mulatte. Er rieb eine blecherne Mundharmonika auf seinen Knien blank. Anders als sein großer Begleiter trug er grellrote Socken und einen Schlips in der gleichen Farbe.
Das Mädchen deutete auf den Mülleimer am Hinterzaun und trat ans Küchenfenster.
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