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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Händen.
    Vielleicht stimmte es ja, dass sie manchmal heraufkam, um Mister Singer zu sehen, während sie dem Radio aus dem oberen Stock zuhörte. Sie fragte sich, was für eine Musik er wohl in seinem Kopf hörte – eine Musik, die seine Ohren nicht hören konnten. Keiner wusste das. Und was für Dinge er wohl sagen würde, wenn er sprechen könnte. Auch das wusste keiner.
    Mick wartete, und nach einer Weile kam er wieder auf die Diele heraus. Sie hoffte, er würde einen Blick hinunterwerfen und ihr zulächeln. Als er an seiner Tür war, blickte er wirklich herunter und nickte ihr zu. Mick grinste breit, und dabei zitterte ihr Gesicht. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Es hätte doch sein können, dass er sie zu sich einladen wollte. Mick wünschte sich plötzlich sehr, in sein Zimmer zu gehen. Bald einmal, wenn er keinen Besuch hatte, würde sie wirklich hineingehen und Mister Singer besuchen. Sie würde es wirklich tun.
    Langsam verstrich der heiße Nachmittag, und Mick saß immer noch allein auf der Treppe. Die Musik von diesem Motsart ging ihr wieder durch den Kopf. Komisch – Mister Singer erinnerte sie an diese Musik. Sie wünschte sich einen Ort, wo sie die Musik laut summen könnte. Es gab Musik, die so privat war, dass man sie in einem Haus voller Leute unmöglich singen konnte. Komisch übrigens, wie einsam man in einem so vollen Haus sein konnte. Mick versuchte sich einen schönen Ort auszudenken, wo sie hingehen und allein sein könnte, um über diese Musik nachzudenken. Aber solange sie auch nachdachte – sie wusste ganz genau, dass es diesen Ort nicht gab.
    4
     
    Am Spätnachmittag wachte Jake Blount mit dem Gefühl auf, er habe nun genug geschlafen. Das Zimmer war klein und sauber; eine Kommode, ein Tisch, ein Bett und einige Stühle. Ein elektrischer Ventilator auf der Kommode drehte sich langsam erst zur einen Wand, dann zur anderen. Die leichte Brise ließ Jake an kühles Wasser denken. Am Fenster saß ein Mann in ein Schachspiel vertieft, das auf dem Tisch vor ihm stand. Bei Tageslicht kam Jake das Zimmer fremd vor, aber das Gesicht des Mannes war ihm gleich vertraut; ihm war, als kenne er ihn schon lange Zeit.
    Aber die letzten Ereignisse gingen in seiner Erinnerung durcheinander. Er lag reglos da, mit offenen Augen, die Handflächen nach oben gekehrt. Seine riesigen Hände nahmen sich auf dem weißen Laken dunkelbraun aus. Als er sie aufhob, sah er, wie zerkratzt und zerschunden sie waren; die Adern waren geschwollen, als ob er sich lange irgendwo festgeklammert hätte. Sein Gesicht sah müde und schmuddelig aus. Das braune Haar fiel ihm in die Stirn, der Schnurrbart war zerzaust. Selbst seine schön geschwungenen Augenbrauen waren wild und struppig. Ein- oder zweimal bewegten sich seine Lippen, und sein Schnurrbart zitterte nervös.
    Nach einer Weile setzte er sich auf und schlug sich mit seiner großen Faust gegen die Schläfe, um sich in Schwung zu bringen. Als er sich rührte, blickte der Schachspieler auf und lächelte ihm zu.
    »Gott, bin ich durstig«, sagte Jake. »Als wär mir die ganze russische Armee auf Strümpfen durchs Maul gelatscht.«
    Der Mann sah ihn immer noch lächelnd an, dann plötzlich langte er unter den Tisch und holte ein Glas und einen Krug mit Eiswasser hervor. Jake trank in langen, gierigen Zügen; dabei stand er halbnackt im Zimmer, den Kopf zurückgeworfen und eine Hand geballt. Erst als er vier Glas Wasser getrunken hatte, holte er tief Atem und entspannte sich etwas.
    Und jetzt kamen auch einige Erinnerungen zurück. Er wusste zwar nicht mehr, wie er mit diesem Mann hierhergekommen war, aber die späteren Geschehnisse nahmen langsam Form an. In einer Wanne mit kaltem Wasser war er zu sich gekommen. Dann hatten sie Kaffee getrunken und geredet. Er hatte sich allerlei von der Seele geredet, und der Mann hatte ihm zugehört. Er hatte sich heiser geredet, aber er erinnerte sich weniger an das, was er gesagt hatte, als an den Gesichtsausdruck des Mannes. Sie hatten die Jalousie herabgelassen, damit das Tageslicht sie nicht störte, und waren zu Bett gegangen. Zunächst war er immer wieder aus Alpträumen aufgeschreckt und hatte Licht gemacht, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der andere war von dem Licht aufgewacht, hatte sich aber nicht darüber beklagt.
    »Du hättest mich doch einfach rausschmeißen können.«
    Der Mann lächelte nur. Jake fragte sich, warum er so still war. Er sah sich nach seinen Kleidern um und fand seinen Koffer neben dem

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