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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Raubvogels.
    »Na, nun sag schon«, sagte Jake. »Was schulde ich dir?«
    Brannon öffnete eine Schublade und legte ein Schreibheft auf die Theke. Langsam blätterte er darin; Jake sah ihm zu. Das Heft sah mehr nach einem persönlichen Notizbuch aus als nach einem echten Rechnungsheft. Lange Zahlenreihen, Additionen, Divisionen, Subtraktionen und dazwischen kleine Zeichnungen. Brannon hielt bei einer Seite inne, in deren Ecke Jake seinen Namen entdeckte. Auf dieser Seite gab es keine Zahlen – nur Kästchen und Kreuze. Und dazwischen waren kleine, rundliche, sitzende Katzen mit langen, geschweiften Schwänzen gezeichnet. Jake starrte auf ihre Gesichter. Die kleinen Katzen hatten etwas Menschlich-Weibliches. Und sie sahen alle aus wie Mrs.   Brannon.
    »Ich hab Kästchen fürs Bier gemacht, Kreuze fürs Essen und Striche für den Whisky. Mal sehn…«, sagte Brannon. Er rieb sich die Nase und senkte die Lider. Dann klappte er das Heft zu. »Sind ungefähr zwanzig Dollar.«
    »Wird ziemlich lange dauern, bis ich die zusammenhabe«, sagte Jake. »Aber vielleicht schaff ich’s ja.«
    »Ist nicht so eilig.«
    Jake lehnte sich an den Tresen. »Sag mal, was ist das hier eigentlich für ’ne Stadt?«
    »Nichts Besonderes«, sagte Brannon. »Ungefähr so wie alle Städte in der Größe.«
    »Wie viel Einwohner?«
    »Etwa dreißigtausend.«
    Jake machte das Tabakpäckchen auf und drehte sich eine Zigarette. Seine Hände zitterten. »Viele Fabriken?«
    »Ganz genau. Vier große Baumwollspinnereien – die sind die größten. Eine Strumpffabrik und ’n paar Egrenierwerke und Sägemühlen.«
    »Und die Löhne?«
    »So zehn bis elf die Woche. Werden natürlich immer wieder welche entlassen. Wieso? Willst du in einer Fabrik anfangen?«
    Jake rieb sich schläfrig mit der Faust über die Augen. »Weiß nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Er legte die Zeitung auf die Theke und zeigte auf die Anzeige, die er eben gelesen hatte. »Ich glaub, ich geh mal rüber und seh mir das an.«
    Brannon las und überlegte. »Tja«, sagte er endlich. »Ich hab’s gesehen. Nicht viel los – bloß so Sachen wie ’n Karussell und ’ne Luftschaukel. Was für Schwarze und für Fabrikarbeiter und Kinder. Die ziehn hier in der Stadt von einem freien Platz zum andern.«
    »Sagst du mir, wie ich da hinkomm?«
    Brannon begleitete ihn zur Tür und zeigte ihm den Weg. »Bist du heute früh mit zu Singer gegangen?«
    Jake nickte.
    »Was hältst du von ihm?«
    Jake biss sich auf die Lippen. Er sah das Gesicht des Taubstummen deutlich vor sich. Wie das Gesicht eines Freundes, den er schon lange kannte. Seit er das Zimmer verlassen hatte, war Singer ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. »Ich hab nicht mal gewusst, dass er taubstumm ist«, sagte er schließlich.
    Er ging wieder die heiße, verlassene Straße hinunter. Diesmal fühlte er sich nicht als Fremder. Ihm war, als suche er jemanden. Bald kam er in ein Fabrikviertel unten am Fluss. Die Straßen wurden schmal und ungepflastert und waren nicht mehr wie ausgestorben. Verwahrloste, magere Kinder trieben sich johlend und spielend herum. Überall die gleichen baufälligen und ungestrichenen Zweizimmerbaracken. Der Gestank von Speiseresten und Abwässern lag in der staubigen Luft. Dazu das schwache Rauschen der Wasserfälle weiter oben am Fluss. Die Leute standen schweigend in den Türen oder hockten auf den Stufen zu ihren Wohnungen. Sie wandten Jake ihre gelblichen, ausdruckslosen Gesichter zu. Und er starrte sie mit seinen großen braunen Augen an. Sein Gang war hölzern, und hin und wieder wischte er sich mit seinem behaarten Handrücken über den Mund.
    Am Ende der Weavers Lane stieß er auf ein unbebautes Grundstück, früher ein Autofriedhof. Noch immer lagen verrostete Motorteile und kaputte Reifen herum. In einer Ecke parkte ein Wohnwagen, und daneben stand ein Karussell, das zur Hälfte von einer Plane verdeckt war.
    Jake ging langsam darauf zu. Zwei kleine Bengels in Overalls standen vor dem Karussell. Nicht weit davon saß auf einer Kiste ein Neger und döste in der Nachmittagssonne. Er hielt in einer Hand eine Tüte mit geschmolzener Schokolade. Jake sah zu, wie er hineinlangte und dann die klebrigen Finger genüsslich abschleckte.
    »Wer ist hier der Chef vom Betrieb?«
    Der Neger steckte zwei süße Finger in den Mund und bearbeitete sie mit der Zunge. »Ist ’n Rothaariger«, sagte er, als er fertig war. »Weiter weiß ich nichts, Käpt’n.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Da drüben,

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