Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
Vom Netzwerk:
kümmern. Die Familie rief ihn bei seinem richtigen Namen – George. Mick nannte ihn zunächst weiter Bubber und wollte ihn auch nicht anders nennen. Aber es war komisch – etwa nach einer Woche rief sie ihn ganz von selber George wie die anderen. Er war nicht mehr derselbe Junge – dieser George. Er hielt sich immer abseits, als wäre er viel älter, und niemand, nicht mal Mick, wusste, was in ihm vorging.
    In der Weihnachtszeit schlief sie bei ihm im Bett. Er lag im Dunkeln und sagte nichts. »Nun hör doch auf, so komisch zu sein«, sagte sie zu ihm. »Komm, wir wollen uns was erzählen: von den Weisen aus dem Morgenland, oder wie die Kinder in Holland ihre Holzschuhe rausstellen.«
    George antwortete nicht. Er war eingeschlafen.
    Um vier Uhr morgens stand sie auf und weckte die ganze Familie. Ihr Papa machte im Vorderzimmer Feuer, und dann durften sie hineingehen und den Weihnachtsbaum und ihre Geschenke anschauen. George bekam ein Indianerkostüm und Ralph eine Plastikpuppe. Die anderen bekamen nur etwas zum Anziehen. Sie durchsuchte ihren Strumpf nach der Micky-Maus-Uhr, aber es war keine darin. Sie bekam ein Paar braune Halbschuhe und eine Schachtel kandierte Kirschen. Noch im Dunkeln ging sie mit George auf die Straße hinaus. Sie knackten Nüsse, ließen Knallfrösche springen und aßen die ganze Schachtel mit den kandierten Kirschen leer. Als es hell war, hatten sie beide Bauchschmerzen und waren todmüde. Sie legte sich aufs Sofa, schloss die Augen und ging in ihre innere Welt.

6
     
    Um acht Uhr saß Doktor Copeland an seinem Schreibtisch und las in seinen Papieren. Durchs Fenster fiel fahles Morgenlicht. Neben ihm stand der Baum: eine zimmerhohe Zeder mit dicken Nadeln. Seit er als Arzt praktizierte, hatte er jedes Jahr am Weihnachtstag ein Fest gegeben. Alles war vorbereitet: An den Wänden der Vorderzimmer standen Bänke und Stühle. Das ganze Haus duftete würzig-süß nach frischgebackenem Kuchen und dampfendem Kaffee. Portia saß bei ihm im Sprechzimmer auf einer Bank, weit vornübergebeugt, das Kinn in die Hände gestützt.
    »Vater, seit fünf Uhr hockst du an diesem Schreibtisch. Du musst das doch nicht jetzt machen. Hättest im Bett bleiben sollen, bis der Betrieb losgeht.«
    Doktor Copeland fuhr sich mit der Zunge über die dicken Lippen. So vieles ging ihm durch den Kopf, er konnte sich jetzt nicht mit Portia befassen. Ihre Anwesenheit machte ihn nervös.
    Schließlich wandte er sich gereizt zu ihr um. »Warum sitzt du herum und bläst Trübsal?«
    »Ich hab eben Sorgen«, sagte sie. »Vor allem mache ich mir Sorgen um unsern Willie.«
    »William?«
    »Siehst du, er hat mir jeden Sonntag geschrieben. Der Brief kommt Montag oder Dienstag an. Aber letzte Woche hat er nicht geschrieben. Natürlich hab ich eigentlich keine Angst. Willie ist immer so gutmütig und lieb, es wird schon in Ordnung sein. Er ist vom Gefängnis zur Zwangsarbeit gekommen, sie arbeiten irgendwo nördlich von Atlanta. Vor zwei Wochen hat er den Brief hier geschrieben; sie gehn heute zum Gottesdienst, und ich sollte ihm seinen Anzug schicken und den roten Schlips.«
    »Hat William sonst noch etwas geschrieben?«
    »Er hat geschrieben, dass dieser Mr.   B.   F.   Mason auch im Gefängnis ist. Und er hat Buster Johnson getroffen – den kennt Willie noch von früher. Und dann sollte ich ihm seine Mundharmonika schicken, weil, er ist nicht glücklich, wenn er nicht Mundharmonika spielen kann. Ich hab alles geschickt. Auch ein Schachspiel und Kuchen mit Zuckerguss. Ach, hoffentlich hör ich die nächsten Tage von ihm.«
    Doktor Copelands Augen glänzten fiebrig; er konnte seine Hände nicht ruhig halten. »Wir sprechen später darüber, meine Tochter. Es ist schon spät, und ich muss das hier noch fertig machen. Geh du wieder in die Küche, und sieh zu, dass alles bereit ist.«
    Portia stand auf und bemühte sich, eine heitere Miene aufzusetzen. »Was hast du entschieden wegen diesem Fünf-Dollar-Preis?«
    »Bis jetzt weiß ich noch nicht, was das Klügste ist«, sagte er vorsichtig.
    Einer seiner Freunde, ein Neger-Apotheker, stiftete jedes Jahr einen Preis von fünf Dollar für den Schüler von der Highschool, der über ein bestimmtes Thema den besten Aufsatz schrieb. Der Apotheker ließ Doktor Copeland allein über die Aufsätze entscheiden, und der Preisträger wurde beim Weihnachtsfest bekanntgegeben. Diesmal war das Thema: ›Mein höchstes Ziel: Die Verbesserung der Stellung der Negerrasse innerhalb der

Weitere Kostenlose Bücher