Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
menschlichen Gesellschaft.‹ Unter den eingereichten Aufsätzen kam überhaupt nur einer in Frage. Aber der war so kindlich und unreif, dass es kaum zu verantworten war, ihm den Preis zuzuerkennen. Doktor Copeland setzte seine Brille auf und las den Aufsatz noch einmal sehr aufmerksam durch.
Dies ist mein höchstes Ziel: Erstens möchte ich das Tuskegee-College besuchen, aber ich will nicht so was werden wie Booker Washington oder Doktor Carver. Wenn ich dann denke, dass meine Ausbildung beendet ist, will ich damit anfangen, ein guter Rechtsanwalt zu werden, so wie der Mann, der die Jungs von Scottsboro verteidigt hat. Ich würde nur die Verteidigung von Farbigen gegen Weiße übernehmen. Täglich lässt man in jeder Weise und mit allen Mitteln unsre Leute fühlen, dass sie minderwertig sind. Das ist nicht so. Wir sind eine aufstrebende Rasse. Und wir wollen nicht ewig unter der Last schwitzen, die der weiße Mann uns aufbürdet. Wir wollen nicht, dass immer andere ernten, was wir gesät haben.
Ich möchte wie Moses werden, der die Kinder Israels aus dem Land der Unterdrücker geführt hat. Ich möchte eine Geheimorganisation farbiger Führer und Gelehrter gründen. Dann werden alle Farbigen sich unter der Leitung dieser auserwählten Führer organisieren und den Aufstand vorbereiten. Andere Nationen der Welt, die am Aufstieg unserer Rasse interessiert sind und eine Aufteilung der Vereinigten Staaten wollen, werden uns zu Hilfe kommen. Alle Farbigen werden sich organisieren, und es wird eine Revolution geben, und zum Schluss werden die Farbigen das ganze Gebiet östlich des Mississippi und südlich des Potomac einnehmen. Ich werde einen mächtigen Staat gründen, der von der Organisation farbiger Führer und Gelehrter regiert wird. Kein Weißer wird einen Pass bekommen – und wenn sie in unseren Staat kommen, werden sie keine Bürgerrechte haben.
Ich hasse die ganze weiße Rasse und werde immer dafür arbeiten, dass die farbige Rasse sich für all ihr Leiden rächen kann. Das ist mein höchstes Ziel.
Doktor Copeland spürte die Hitze des Fiebers in seinen Adern. Das laute Ticken der Uhr auf seinem Schreibtisch zerrte an seinen Nerven. Durfte er einem Jungen mit so wilden Ideen den Preis geben? Wie sollte er sich entscheiden?
Die anderen Aufsätze hatten überhaupt keinen Inhalt. Die jungen Leute hatten nicht nachgedacht. Sie schrieben nur von ihren ganz privaten Interessen und befassten sich überhaupt nicht mit dem zweiten Teil des Themas. Eines allerdings war bemerkenswert: Neun von den eingereichten fünfundzwanzig Aufsätzen begannen mit dem Satz: »Ich will kein Dienstbote sein.« Dann folgten die verschiedenen Wünsche: Flieger, Preisboxer, Geistlicher oder Tänzer. Ein Mädchen hatte das eine Ziel: den Armen Gutes zu tun.
Der Verfasser des Aufsatzes, über den er sich Gedanken machte, hieß Lancy Davis. Bevor er noch die letzte Seite umblätterte und die Unterschrift sah, hatte er gewusst, dass der Aufsatz von ihm stammte. Lancy hatte ihm schon manche Sorgen bereitet. Seine ältere Schwester hatte im Alter von elf Jahren eine Stellung als Dienstmädchen angenommen und war von ihrem Arbeitgeber, einem älteren Weißen, vergewaltigt worden. Etwa ein Jahr später war Doktor Copeland wegen eines Notfalls zu Lancy gerufen worden.
Er ging zum Aktenschrank in seinem Schlafzimmer, der die Patientenkartei enthielt. Er zog die Karte ›Mrs. Dan Davis und Familie‹ heraus und überflog die Eintragungen, bis er auf Lancys Namen stieß. Das Datum lag vier Jahre zurück. Die Einträge über Lancy waren sorgfältiger als die anderen geschrieben und in Tinte: ›Dreizehn Jahre alt – Pubertät überstanden. Misslungener Selbstentmannungs-Versuch. Sexuell übersteigert. Schilddrüsenüberfunktion. Bei zwei Besuchen heftiges Weinen trotz geringer Schmerzen. Redselig – erzählt sehr gern, aber verworren. Soziale Situation gut bis auf eine Ausnahme: siehe Lucy Davis. Mutter Waschfrau. Intelligent, aufmerksam und hilfsbereit. Verbindung aufrechterhalten. Rechnung: $ 1.-(?)‹
»Diesmal fällt mir die Entscheidung sehr schwer«, sagte er zu Portia. »Aber wahrscheinlich werde ich Lancy Davis den Preis geben müssen.«
»Wenn du dich entschieden hast, dann komm und sag mir wegen den Geschenken Bescheid.«
In der Küche lagen die Gaben, die zum Fest verteilt werden sollten – Papierbeutel mit Lebensmitteln und Kleidung –, alle mit einer roten Weihnachtskarte versehen. Jeder, der wollte, war eingeladen, aber er
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