Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
geklungen.
Sie fuhren ganz langsam einen knappen Kilometer aus der Stadt hinaus, da sah sie Bubber plötzlich. Im Scheinwerferlicht des Wagens vor ihnen war er ganz deutlich zu erkennen. Komisch war das. Er ging am Straßenrand und streckte den Daumen raus, damit ihn jemand mitnahm. Er hatte Portias Tranchiermesser im Gürtel stecken und sah auf der breiten, dunklen Straße so klein aus, als wäre er erst fünf und nicht schon sieben Jahre alt.
Als sie anhielten, kam er angelaufen, um einzusteigen. Er konnte sie nicht erkennen und schaute ganz verkniffen drein, wie wenn er beim Murmelspiel zielte. Ihr Papa packte ihn beim Kragen. Bubber trat nach ihm und schlug mit den Fäusten um sich. Dann hatte er das Tranchiermesser in der Hand. Ihr Papa entriss es ihm gerade noch rechtzeitig. Er wehrte sich wie ein kleiner Tiger in der Falle, schließlich aber verfrachteten sie ihn in den Wagen. Ihr Papa hatte ihn während der Rückfahrt auf dem Schoß; Bubber saß ganz steif da und lehnte sich nirgends an.
Sie mussten ihn ins Haus zerren, und alle Nachbarn und Mieter kamen heraus und sahen zu. Sie schleppten ihn ins Vorderzimmer. Dort verkroch er sich in eine Ecke und sah mit geballten Fäusten und zusammengekniffenen Augen von einem zum anderen, als wollte er gleich mit ihnen allen kämpfen.
Seit sie im Haus waren, hatte er kein Wort gesprochen; plötzlich fing er an zu schreien: »Mick war’s! Ich war’s nicht! Mick war’s!«
Noch nie hatte sie jemanden so schreien gehört. Seine Halsadern traten hervor, und seine Fäuste waren hart wie kleine Steine.
»Ihr kriegt mich nicht! Keiner kriegt mich!«, schrie er immer wieder.
Mick schüttelte ihn bei den Schultern. Sie sagte ihm, dass alles, was sie ihm erzählt hatte, erfunden war. Schließlich begriff er das, wollte sich aber nicht beruhigen. Er konnte einfach nicht aufhören zu schreien.
»Ich hasse alle! Ich hasse alle!«
Sie standen um ihn herum. Mister Brannon rieb sich die Nase und blickte zu Boden. Schließlich ging er ganz leise hinaus. Nur Mister Singer schien zu wissen, worum es hier ging. Vielleicht, weil er dieses furchtbare Geschrei nicht hörte. Sein Ausdruck war so gelassen wie immer, und wenn Bubber ihn ansah, schien auch er ruhiger zu werden. Mister Singer war anders als alle anderen Menschen. Wenn so etwas los war, sollten die anderen ihn einfach machen lassen. Er hatte ein feines Gefühl und wusste Dinge, die gewöhnliche Menschen nicht wissen konnten. Er sah Bubber nur an, und nach einer Weile hatte der Junge sich so weit beruhigt, dass ihr Papa ihn zu Bett bringen konnte.
Im Bett vergrub er sein Gesicht ins Kissen und weinte. Er schluchzte in langen, heftigen Stößen, und sein ganzer Körper zitterte dabei. Er weinte eine Stunde lang, so dass niemand in den drei Zimmern schlafen konnte. Bill zog aufs Wohnzimmersofa um, und Mick legte sich zu Bubber ins Bett. Sie durfte ihn nicht anfassen oder sich an ihn kuscheln. Nachdem er noch eine Stunde geweint und laut geschluckt hatte, schlief er ein.
Sie lag lange wach. Im Dunkeln legte sie die Arme um ihn und zog ihn fest an sich. Sie streichelte und küsste ihn am ganzen Körper. Er war so weich und hatte einen salzigen Jungsgeruch. Ihre Liebe für ihn war so stark, dass sie ihn an sich drücken musste, bis ihr die Arme schmerzten. In ihrem Kopf verschmolz Bubber mit der Musik. Ihr war, als könnte sie nie so gut zu ihm sein, wie sie wollte. Sie würde ihn nie wieder schlagen oder auch nur ärgern. Die ganze Nacht hielt sie im Schlaf seinen Kopf in ihren Händen. Als sie morgens aufwachte, war er fort.
Aber nach dieser Nacht gab es nicht mehr viel Gelegenheit, ihn zu ärgern – weder für sie noch für sonst jemanden. Nach dem Schuss auf Baby wurde er nie wieder der kleine Bubber. Immer hielt er den Mund fest verschlossen und war für keinen Streich mehr zu haben. Meistens saß er allein im Hinterhof oder auf dem Kohlenschuppen. Weihnachten rückte immer näher. Weiß Gott – sie wünschte sich ein Klavier, aber davon sagte sie natürlich nichts. Sie erzählte allen, sie wünsche sich eine Micky-Maus-Uhr. Als Bubber gefragt wurde, was er sich vom Weihnachtsmann wünsche, sagte er, nichts wünsche er sich. Er versteckte seine Murmeln und sein Klappmesser, und niemand durfte seine Geschichtenbücher anfassen.
Seit jener Nacht nannte ihn niemand mehr Bubber. Die größeren Nachbarskinder hatten ihn ›Baby-Killer Kelly‹ getauft. Aber er redete kaum mit irgendjemand und schien sich um nichts zu
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