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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Gehrock da und sprach mit seinem Schwiegersohn, der bei der Müllabfuhr arbeitete. Der Pfarrer von der Himmelfahrtskirche war gekommen, außerdem zwei Geistliche aus anderen Kirchen. Highboy schlenderte ungezwungen in seinem buntkarierten Anzug durch die Menge. Kräftige, nach der neuesten Mode gekleidete junge Herren begrüßten junge Damen in grellfarbigen, langen Kleidern. Mütter waren mit ihren Kindern gekommen und betuchte alte Männer, die in ihre bunten Taschentücher spuckten. Im Zimmer war es heiß und laut.
    Mister Singer stand an der Tür. Viele Gäste starrten ihn an. Doktor Copeland war sich nicht klar darüber, ob er ihn begrüßt hatte. Der Taubstumme stand allein. Irgendwie ähnelte sein Gesicht einem Bild von Spinoza. Ein jüdisches Gesicht. Schön, dass er da war.
    Alle Türen und Fenster standen offen. Der Wind zog durchs Zimmer und ließ das Feuer aufheulen. Allmählich verstummte der Lärm. Alle Bänke und Stühle waren besetzt, auf dem Fußboden saßen reihenweise junge Leute. In der Diele, auf der Veranda, sogar im Hof standen die Gäste in erwartungsvollem Schweigen. Nun war es so weit: Er musste reden. Aber was sollte er sagen? Vor panischer Angst war ihm die Kehle wie zugeschnürt. Das ganze Zimmer wartete auf ihn. Auf ein Zeichen von John Robert erstarb jedes Geräusch.
    »Meine Brüder«, begann Doktor Copeland verwirrt und stockte. Plötzlich aber waren die Worte da: »Zum neunzehnten Mal versammeln wir uns hier in diesem Raum, um miteinander Weihnachten zu feiern. Es war eine finstere Zeit, als unser Volk zum ersten Mal von Christi Geburt vernahm. Damals wurden unsere Leute in dieser Stadt auf dem Gerichtsplatz als Sklaven verkauft. Seitdem haben wir die Geschichte Seines Lebens unzählige Male gehört und weitererzählt. Darum wollen wir heute von etwas anderem sprechen.
    Vor hundertundzwanzig Jahren wurde in einem Land, weit jenseits des Atlantischen Ozeans – in Deutschland – ein anderer Mann geboren. Dieser Mann erkannte das Notwendige, genau wie Jesus. Aber er befasste sich nicht mit dem Himmel oder mit dem Leben nach dem Tod. Seine Botschaft galt den Lebenden: der großen Masse derer, die arbeiten und leiden und wieder arbeiten – bis zu ihrer Todesstunde; den Menschen, die am Waschtrog oder am Kochherd stehen, die Baumwolle pflücken oder an den heißen Bottichen der Färbereien arbeiten. Er hieß Karl Marx, und seine Botschaft gilt uns.
    Karl Marx war ein kluger Mann. Er studierte und arbeitete, und er verstand die Welt, in der er lebte. Er hat gesagt: Es gibt zwei Klassen auf der Welt – die Armen und die Reichen. Jeder Reiche lässt ein paar tausend Arme für sich arbeiten, damit er noch reicher wird. Karl Marx teilte die Menschen nicht ein in Neger und Weiße oder Chinesen, denn ob ein Mensch zu den Millionen Armen oder aber zu den wenigen Reichen gehört, war für ihn wichtiger als die Farbe seiner Haut. Sein Lebtag kämpfte er für die Gleichheit aller Menschen und forderte, dass der Reichtum der Welt so verteilt wird, dass es nicht mehr Arme und Reiche gibt, sondern dass jeder Einzelne seinen Anteil erhält. Eines der Gebote, die Karl Marx uns hinterlassen hat, heißt: ›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.‹«
    In der Diele hob sich schüchtern eine runzlige, gelbe Hand: »War das der Markus aus der Bibel?«
    Doktor Copeland gab die entsprechende Erklärung, buchstabierte die beiden Namen und nannte Jahreszahlen. »Hat noch jemand eine Frage? Ich möchte, dass jeder ohne Scheu Fragen stellt oder seine Meinung äußert.«
    »Vermutlich war dieser Marx ein Angehöriger der christlichen Kirche?«, fragte der Pfarrer.
    »Er glaubte an die Heiligkeit des menschlichen Geistes.«
    »War er ein Weißer?«
    »Ja. Aber er fühlte sich nicht als Weißer. Er hat gesagt: ›Mir ist nichts Menschliches fremd.‹ Er fühlte sich allen Menschen brüderlich verbunden.«
    Doktor Copeland machte eine etwas längere Pause. Alle Gesichter waren ihm erwartungsvoll zugewandt.
    »Worin besteht der Wert von Eigentum, der Ware, die wir im Laden kaufen? Dieser Wert hängt nur davon ab, wie viel Arbeit es gekostet hat, um einen Gegenstand zu schaffen. Warum ist ein Steinhaus teurer als eine Bretterbude? Weil für den Bau eines Steinhauses viele Menschen arbeiten müssen: Leute, die Mauersteine und Mörtel herstellen, und andere, die Bäume für die Dielenbretter fällen. Diese Leute machen den Bau des Steinhauses überhaupt erst möglich. Dann die Männer, die das

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