Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
unternehmen sollte. Ihr Papa lief die Straße hoch und runter und blickte in alle Seitenstraßen. Mister Brannon telefonierte nach einem Taxi für Mrs. Wilson. Er blieb bei ihnen, um bei der Suche zu helfen. Mister Singer saß auf der Verandabrüstung; er bewahrte als Einziger die Ruhe. Alle erwarteten von Mick, dass sie einen Plan machte, wo man nach Bubber suchen solle. Aber die Stadt war so groß, und der kleine Kerl war so schlau – sie wusste auch nicht, was man tun sollte. Vielleicht war er nach Sugar Hill zu Portias Wohnung gegangen. Sie ging wieder in die Küche, wo Portia, die Hände vor dem Gesicht, am Tisch saß.
»Mir ist plötzlich eingefallen, vielleicht ist er in deiner Wohnung. Hilf uns suchen!«
»Wieso hab ich bloß daran nicht gedacht. Wetten, der arme kleine Angsthase sitzt die ganze Zeit bei mir zu Hause.«
Mister Brannon hatte sich ein Auto geliehen. Er, Mister Singer und Micks Papa stiegen mit ihr und Portia in den Wagen. Außer Mick wusste keiner, wie es in Bubber aussah. Keiner wusste, dass er wirklich um sein Leben rannte.
In Portias Haus war es dunkel bis auf die hellen Vierecke, die das Mondlicht auf den Fußboden warf. Schon beim Eintreten spürten sie, dass die beiden Zimmer leer waren. Portia drehte das Licht im Vorderzimmer an. Die Wohnung roch nach Farbigen und war voll von ausgeschnittenen Bildern an den Wänden und Spitzendecken und Spitzenkissen auf den Betten. Bubber war nicht da.
»Er war hier«, sagte Portia auf einmal. »Ich fühl ganz sicher, dass jemand hier war.«
Mister Singer fand den Bleistift und das Stück Papier auf dem Küchentisch. Er las rasch; dann ging der Zettel von Hand zu Hand. Die Schrift war dünn und geschwungen, und der schlaue kleine Kerl hatte nur ein einziges Wort falsch geschrieben. Die Nachricht lautete:
Liebe Portia,
ich bin nach Florada. Sag’s allen andern.
Dein Bubber Kelly
Alle standen ganz verdattert da. Ihr Papa blickte zur Haustür und rieb sich sorgenvoll die Nase. Sie wollten sich gerade wieder in den Wagen zwängen, um auf die südwärts führende Straße hinauszufahren, als Mick sagte:
»Halt – wartet mal. Bubber ist zwar erst sieben, aber so viel Grips hat er doch, dass er uns nicht erzählt, wohin er auskneifen will. Mit Florida will er uns bloß reinlegen.«
»Reinlegen?«, fragte Paps.
»Klar. Es gibt nur zwei Gegenden, über die Bubber einigermaßen Bescheid weiß: die eine ist Florida, und die andre ist Atlanta. Ich bin mit Bubber und Ralph schon oft auf der Straße nach Atlanta gewesen. Er weiß, wie man dahinkommt, bestimmt ist er in der Richtung gelaufen. Er hat schon immer davon geredet, was er alles machen will, wenn er mal nach Atlanta kommt.«
Als sie gerade in den Wagen steigen wollte, kniff Portia sie in den Ellenbogen. »Weißt du, was Bubber gemacht hat?«, fragte sie leise. »Sag es niemand, aber mein Bubber hat meine goldenen Ohrringe vom Ankleidetisch genommen. Nie hätte ich gedacht, dass mein Bubber mir so was antun würde.«
Mister Brannon ließ den Motor an. Sie fuhren langsam und suchten alle Straßen ab, die zur Landstraße nach Atlanta führten.
Es stimmte schon, Bubber hatte eine grobe und gemeine Ader. So hatte er sich noch nie benommen. Bisher war er immer ein braver kleiner Kerl gewesen und hatte nie etwas Gemeines getan. Wenn er jemanden kränkte, schämte er sich schrecklich und wurde ganz nervös. Wie war er nur darauf gekommen, heute solche Sachen anzustellen?
Sie fuhren ganz langsam die Straße nach Atlanta hinunter. Die letzten Häuser lagen hinter ihnen; sie kamen nun durch die dunklen Felder und Wälder. Unterwegs hatten sie mehrmals gehalten und gefragt, ob jemand Bubber gesehen habe. »Ist hier ein kleiner Junge vorbeigekommen, barfuß und in Kordhosen?« Sie waren schon mehr als fünfzehn Kilometer gefahren, aber niemand hatte ihn gesehen oder wusste etwas von ihm. Der Wind blies kalt und scharf durch die offenen Wagenfenster, und es war spät in der Nacht.
Sie fuhren noch ein Stück weiter und kehrten dann um. Ihr Papa und Mister Brannon wollten bei allen Kindern aus der zweiten Klasse nachfragen, aber sie sagte, sie sollten noch einmal die Straße nach Atlanta langfahren. Die ganze Zeit musste sie daran denken, was sie zu Bubber gesagt hatte. Dass Baby tot wäre, und die Sache mit Sing Sing und Direktor Lawes, mit den kleinen elektrischen Stühlen, die genau sein Größe hatten, und dass er in die Hölle käme. In der Finsternis hatte das alles so schrecklich
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