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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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geflogen. Giovanni erfuhr die Geschichte von Ilse. Im Religionsunterricht hatte die Lehrerin einer modernistischen Anwandlung folgend gefragt, worin der Sinn der Schöpfung bestehe. Bo hatte geantwortet, die Schöpfung habe seiner Meinung nach das Ziel verfolgt, ihn, Bo Pletsky, schließlich hervorzubringen, und sei deswegen jetzt abgeschlossen. Wortlos und nach Atem ringend war die Lehrerin aus der Klasse gestürzt, um den stets bereiten Winkler zu rufen, und Bo hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit bekommen zu erklären, daß er damit irgendwie auf seine Gotteskindschaft habe anspielen wollen. Er war nach Hause geschickt worden, und am nächsten Tag war ihm ein blauer Brief gefolgt, der den Schulverweis besiegelte.
    »Ich, Bernward Pletzky, verehrt und angespien!« hatte er mit Emphase geschrien, als ihn Winkler aus der Klasse winkte. Das war aus seinem derzeitigen Lieblingsgedicht von François Villon. Er hatte nur die Namen ausgetauscht.
    Das Ganze war ein Mißverständnis. Er hatte zwar witzig sein wollen, aber nicht blasphemisch. Im Gegensatz zu Giovanni war er nämlich religiös. Erst vor einem halben Jahr war er von der katholischen Konfession seines Vaters zur evangelischen seiner Mutter übergetreten, hatte dafür extra Unterricht bei einem Pfarrer genommen und geduldig Giovannis Witzeleien ertragen. Es war ihm wirklich ernst, und er fühlte sich wie neu geboren, als er endlich dem Schoß dieser Kirche entkommen war. Gerade rechtzeitig vor der Enzyklika Humanae vitae, in der Papst Paul der Sechste seine Abneigung gegen Bos Lieblingsbeschäftigung in die Welt hinausposaunen würde.

 
SECHS
    Im Blaupunkt-Radio starb Robert Kennedy, ohne je etwas von Panzern in Prag gehört zu haben. Eine Sache, die man dufte fand, nannte man »Spitze«.
     
    Spitze war zum Beispiel die Befreiung von der Gartenarbeit. Infolge von Bos Rausschmiß war das Augenmerk des Vaters auch auf Giovannis schlechte Leistungen gefallen. Er erklärte sich bereit, Nachhilfeunterricht zu nehmen. Bei einer Klassenkameradin namens Ilse. Den Job in der Bäckerei mußte er behalten, um den Unterricht bezahlen zu können, so blieb für die Gartenarbeit keine Zeit mehr. Und Ilse hatte seinerseits Unterricht bei ihm. Mit etwas Mißtrauen hätte Giovannis Eltern auffallen können, daß der Nachhilfeunterricht bei schlechtem Wetter regelmäßig ausfiel. Aber der Kontakt war mittlerweile immer beiläufiger geworden. Ein Minimum an Verboten stand einem Minimum an Gehorsam gegenüber. Für Giovanni stellte sich die ganze Erwachsenenwelt als Schwarzweißfilm am Rande des Hauptgeschehens dar. Das Hauptgeschehen war in Farbe. Laura, Ilse, die Erinnerung an Bo, die Mauer am Fluß und alle wilden Gegenstände, die es einzufangen galt, waren in Farbe. Alle anderen, Eltern, Lehrer, Busfahrer oder die Frau an der Kinokasse, waren schwarzweiß. Unwichtig. Der einzige nicht schwarzweiße Erwachsene war Lauras Vater. Er sprach mit Giovanni, als interessiere er sich für dessen Meinung, hatte nichts dagegen, daß Laura mit ihm zusammen war, und mochte ihn offenbar gern.
    Lauras Schwester war zur Mutter in eine andere Stadt gezogen, und Laura vermißte sie nicht. An Wochenenden kochten sie und ihr Vater gemeinsam, oft mit Giovanni als Gast, der anfänglich aus dem Staunen nicht herauskam. Laura durfte tun und lassen, was sie wollte, und konnte ihrem Vater offenbar zu jedem Thema Fragen stellen. Er liebte sie, aber schrieb ihr nichts vor. Würden Giovannis Eltern es erlauben, dann könnte er vielleicht sogar in der Landhausstraße übernachten. Dort stand außerdem ein Fernseher, für den sich allerdings niemand außer Giovanni interessierte. Der Fernseher würde später einmal »Glotze« heißen.
     
    Bo war auf eine Nordseeinsel ins Internat geschickt worden. Keine Schule in der Stadt hatte ihn aufnehmen wollen. Frech und faul, wie er war, blieb den Eltern nur die Möglichkeit, Geld zu bezahlen, damit er wenigstens den Hauptschulabschluß schaffen würde.
    Einmal hatte Bo geschrieben. Einen nahezu unleserlichen Brief. Was Giovanni aber entziffern konnte, klang nicht nach allzu großem Kummer. Unter anderem enthielt der Brief den Tip, im »Museum« eine bestimmte Tür zu probieren. Durch diese Tür konnte man zu bestimmten Zeiten unbemerkt auf die Bühne gelangen und sich Filme ansehen. Das »Museum« war Theater und Kino in einem. Wenn keine Aufführungen stattfanden, war eine Leinwand vor die Bühne gespannt, und der Saal war Kino.
    Den Bühneneingang, der zu

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