Das Herz ist eine miese Gegend
Kinozeiten als Fluchtweg für den Brandfall offenblieb, hatte Bo bei der Bewerbung um eine Statistenrolle entdeckt. Man saß auf der Bühne und sah sich die Filme seitenverkehrt an. Das machte nichts, denn der Ton liefja deshalb nicht rückwärts. Nur wenn Geschriebenes auftauchte, sah es wie Russisch aus. Auf diese Weise konnten Giovanni und Ilse jede Menge Wespenstiche sehen. Sie suchten sich Filme aus, die »ab achtzehn« waren.
Laura interessierte sich tatsächlich nicht für Sex. »Später«, sagte sie immer, wenn Giovanni eine Andeutung versuchte. Er durfte in ihrem Bett liegen, sie gingen spazieren miteinander, sie küßte ihn und steckte beim Gehen ihre Hand in die Hintertasche seiner Jeans, aber mehr wollte sie nicht.
»Ist doch schön so«, sagte sie, »hab’s doch nicht so eilig.«
Andererseits nahm sie ihm nicht übel, daß er immer wieder probierte, den eher geschwisterlichen Rahmen ihrer Freundschaft zu erweitern. Manchmal schien es sogar, als wolle sie ihm kleine Schritte ermöglichen, als ginge sie millimeterweise auf seine Wünsche ein.
Eines Nachmittags zeigte sie ihm ihre Brüste, nachdem er vorher versprochen hatte, nicht näher zu kommen. Am anderen Ende des Zimmers zog sie sich Pullover und Unterhemd über den Kopf, warf beides neben sich aufs Bett und stand dann stolz und auch ein wenig schüchtern vor ihm. Von Wespenstichen konnte keine Rede sein. Seine Hand hätte nicht ausgereicht, sie zu bedecken. Sie sah ihm direkt in die Augen, aber so einverstanden, daß er sich nicht ausgespäht vorkam. Er brauchte sich nicht zu genieren für seinen indiskreten Blick.
»Jetzt mußt du aufs Klo«, sagte sie, als sie den Pullover wieder anzog.
Nun war Laura über die Ferien mit ihrem Vater in Südfrankreich. Sie schrieb Briefe, deren Ankunft Giovanni mit fiebrigem Glück erlebte. »Ist schön, aber langweilig«, schrieb sie. »Ich hätte gern Deine Schwitzhand auf meinem Bauch.« Und ein andermal: »Hier gibt es Jungs, aber sie reichen Dir das Wasser nicht. Sie wollen alle dasselbe. Ich weiß, das willst Du auch. Der Unterschied zwischen denen und Dir ist, daß Du es kriegst.« Und als Schlußsatz schrieb sie: »Ist alles Deins, mein geduldiger Prinz. Bis gleich, Deine Laura.«
Schon lange waren in Giovannis Leben keine Hirngespinste mehr aufgetaucht. Jetzt lösten die Briefe Bilder aus, die ihn, ähnlich den Hirngespinsten früher, in Beschlag nahmen. Es waren ganze Filme. Stundenlang ließ er seine Schwitzhand über ihren Bauch spazieren.
Langsam glitt sie tiefer, täuschte eine Eroberung der Haare an, um dann wieder zurückzuweichen. Oder sie streichelte die Brüste. Manchmal gelang es ihm auch, Laura nackt zu sehen. Sie ging dann vor ihm her, winkte, bückte sich, um etwas aufzuheben, kletterte auf Bäume, setzte sich auf Bänke, schlang die Arme um die Schultern und sprach dabei über die alltäglichsten Dinge.
Ihre Brüste hüpften, wenn sie auf ihn zurannte, die Haare flogen um ihr Gesicht, wenn sie lachend den Kopf drehte, und das Dreieck in ihrem Schoß war einmal hellund das nächste Mal dunkelblond.
Er selbst war immer angezogen, denn auch in seinen Träumen hielt er sich an ihre Regeln.
Er war allein mit Norbert. Die Eltern machten eine Reise durch Italien, und Arno verbrachte die Ferien bei einem Klassenkameraden, auf dessen Pferd er reiten durfte. Reiten war zwar nicht direkt sozialistische Praxis, aber Arno war der Ansicht, nach dem Sieg der Massen solle jeder Werktätige sein Pferd haben.
An den Plattenspieler zu kommen war kein Problem mehr. Der Schrankschlüssel lag in einer Schublade. Giovanni mußte sich nur mit Norbert absprechen, wenn er Musik hören wollte. Und Norbert war meistens weg, denn er lernte mit einer Freundin fürs Abitur. »Norwegian Wood« war lange schon wirkungslos geworden, war nur noch ein schönes Lied, das Giovanni gelegentlich hörte, ohne daß es in ihn drang. Das Weinen ohne Augen kam aus einem neuen Lied. »Suzanne« von Leonard Cohen. Laura war Suzanne, und überall war Sonne. Das ganze Lied war golden von Sonne und Laura. »And you want to travel with her, and you want to travel blind, and you know tlhat she will trust you, for you’ve touched her perfect body with your mind.« Das stimmte alles. Giovanni würde mit ihr gehen, wohin immer sie wollte. Blind, wie er ohnehin für alles außer ihr war, würde er ihr folgen, ginge sie nur voraus und winkte. »Perfect body« stimmte, und daß er diesen Körper bislang nur mit seiner Seele berührt
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