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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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der Steineklopfer mischte sich mit dem Zwitschern der Vögel und den Teppichklopf- und Staubsaugergeräuschen in der Nachbarschaft. Zwei Frauen tratschten von Fenster zu Fenster, und der Kaffee, den Karen in die Thermoskanne gefüllt hatte, duftete wie frisch gebrüht. Neben der Kanne stand ein bunter Blumenstrauß und an die Vase gelehnt eine Karte: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. In Liebe, Karen. Es klingelte.
    »Telegramm«, rief es von unten, und er ging dem Boten entgegen. Es war von Laura. Willkommen im Club, stand da, und Giovanni stellte es neben Karens Karte an die Vase.
    War ich schon einmal so glücklich?, fragte er sich. Einige wenige Male vielleicht. Als Laura ihn zum ersten Mal berührt hatte, im Weinberg, nach der Schule; als Freddie in Aix vor ihm herlief zum Haus; als Laura aus dem Flugzeug stieg und als Karen ihn in Kamen auf sich zog. Und vorgestern, als er den Schlußsatz der Geschichte schrieb.
    Das Telegramm und die Karte vertrugen sich nicht. Das Wort »Liebe« auf Karens Gruß war unvereinbar mit Lauras Gegenwart. Nach kurzem Zögern entschied er sich, das Telegramm in die Schublade zu den Briefen zu legen. Angekommen war es ja. Tief innen sogar.
    Schon seit einigen Jahren kam immer um die Zeit seines Geburtstages eine wohlige Wehmut über ihn. Er sprach nie darüber, denn die Worte hätten Kitsch oder Pathos entlarvt. Aber ohne Worte, ohne daß er Rechenschaft darüber ablegen mußte, war diese Wehmut ihm das wahre Maß der Jahre geworden. Sein eigenes Sylvester im April.
    Wenn es roch wie jetzt und klang wie hier, dann dachte er an seine alten Wünsche. Geriet für kurze Momente in eine Zeitschleife, horchte aus der Zukunft nach dort, wo sie noch nicht Gegenwart war. So roch und klang die Welt, als er sich danach sehnte, hinaus in das Leben hinter dem Stoffbezug des Blaupunkt-Radios zu gelangen und alles zu fassen, was dort für ihn sei; so roch und klang die Welt, als er meinte, an den Fingerspitzen zu fühlen, wie es sein würde, eine nackte weibliche Brust zu berühren, als er die Augen schloß, um Lauras Körper von allen Seiten zu sehen, als er die Haut anspannte, um zu spüren, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. So roch und klang die Welt auch noch, als er hoffte, Stefans Platte werde ein Erfolg und er entpuppe sich zu einem großen Dichter.
    Und dann roch nichts mehr. Jahre vergingen mit Dienst nach Vorschrift, bis auf einmal die Erinnerung auftauchte. Und mit ihr wieder Geruch und Klang der Zukunft.
    Dreißig Jahre. Noch gestern nacht hatte er einen kleinen Schock bekommen, als jäh das Bewußtsein einsetzte. Dreißig |ahre, mit Glück ein Drittel, mit Pech die Hälfte, und dann wird es mich einfach nicht mehr geben. Mich, den Wichtigsten von allen. Und überdies waren die letzten zehn Jahre so schnell vergangen, daß er sie nicht mit den früheren vergleichen konnte. Selbst wenn er noch einmal dreißig Jahre hatte, sie würden sich anfühlen wie zehn. Oder fünfzehn. Das mußte an den Wiederholungen liegen, dem Mangel an Premieren. Kein Wunder, daß er anfing, seiner Jugend nachzutrauern. - Aber jetzt, bei diesem Frühstück, war der Schrecken überholt, und die Wehmut war ein schöner Teil des Lebens. Giovanni wollte noch den Postboten abwarten und dann sein eigenes Geburtstagsgeschenk kaufen gehen. Einen Computer. Er freute sich schon aufs Abtippen und Überarbeiten des Manuskripts. Außerdem brannte er darauf, zu erfahren, wie es Laura gefiel. Und Karen würde er es auch zeigen. Jetzt, wo es fertig war. Zumindest mal fertig erzählt.
    In der Post waren noch zwei Glückwunschkarten von Bekannten, aber keine von Stefan. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten. Wenn eine gekommen wäre, hätte es mich mehr gestört, dachte Giovanni und machte sich auf in die Stadt, um alles, was er für das Fest abends brauchte, einzukaufen.
    So laut ließ er »A Salty Dog« laufen, während er Salate wusch, daß er ihr Kommen erst bemerkte, als Karen ihn von hinten küßte. Sie trug ein Kleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Weich, schwarz und lang mit einem Schnitt, der ihre Brüste und Hüften unterstrich.
    »Mann, bist du schön. Ist das neu?«
    »Es kann nicht Mann heißen«, lachte sie, »>Frau, bist du schön< vielleicht, aber nicht Mann. Ja, es ist neu. Es ist ein Teil von deinem Geschenk.«
    »Und wo ist der Rest?«
    Sie ließ das Paket unter ihrem Arm einfach fallen, sagte: »Das ist bloß Attrappe«, hob den Kleidersaum bis zum Kinn und zeigte, daß sie nichts darunter trug

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