Das Herz ist eine miese Gegend
antwortete: »Kleine Dicke mit Brille, remember?«
»Von wo rufst du an?« fragte er, weil er nichts Besseres zu sagen wußte. Außerdem klang ihre Stimme so klar, als telefoniere sie aus der Wohnung nebenan.
»Santa Monica, Nachbarschaft. Ich bin morgen elf Uhr zwanzig eurer Zeit in Frankfurt.«
»Ja«, sagte er nur.
»Okay?« Jetzt schrie sie fast in den Hörer.
»Ja, okay. Elf Uhr zwanzig.«
»Wirst du eine rote Nelke im Knopfloch tragen oder eine Times unterm Arm? Wie erkenn ich dich?«
»Ich bin dann der, der auf dich zukommt.«
»Okay. Meine Kreditkarte macht schon so Zuckungen, ich muß aufhören. Elf Uhr zwanzig. Frankfurt.«
»Ja, ich freu mich.«
»Frankfurt, Westdeutschland. Nicht daß du dich verfährst. Ich verlaß mich drauf.«
»Ich werd’s schon finden.«
»Bye, bis gleich.«
Wie sollte er jetzt schlafen?
Bo, der noch für eine weitere Spielzeit unterschrieben hatte, kam gegen elf mit seiner derzeitigen Freundin, einer österreichischen Schauspielerin namens Christine. Giovanni hielt beide wach, solange er konnte, und freute sich an dem Blitzen in Christines Augen, das ihm ihre Rührung über seine fassungslose Vorfreude verriet. Als die beiden schlafen gingen, brach er auf zu einem Spaziergang durch die warme Oktobernacht, und bald fand er sich an allen Orten, die ihm und Laura gehört hatten. Er wanderte ihre Geschichte ab wie einen Kreuzweg. Es wurde eine lange Wanderung. Von der Stelle im Weinberg, an der er sie zum ersten Mal hatte berühren dürfen, riß er für sie ein Weinblatt ab. Als Willkommensgeschenk. Aber später, wieder unten in der Stadt, beschloß er, es doch wegzuwerfen, da er nicht wußte, ob dieses Geschenk nicht falsche Erwartungen zeigen würde. Wer sagte denn, daß sie daran interessiert sein würde, in Erinnerungen an ihre Liebe zu schwelgen? Fest stand nur, daß sie ihn besuchte, daß er sie sehen würde nach nunmehr fünfzehn Jahren, daß er sie würde reden hören, riechen und berühren. Wo, wie lange und auf welche Art, war offen.
Sein Zug fuhr um fünf Uhr achtunddreißig morgens, und er war Viertel nach zehn am Flughafen. Er setzte sich ins Restaurant und frühstückte, während er gegen die Vorstellung ankämpfte, das Flugzeug werde von Arabern in die Luft gejagt. Das heißt, in der Luft war es ja schon. Acht Minuten nach elf landete eine TWA-Maschine, und er ging mit bis an den Hals klopfendem Herzen zum Zollschalter an der Gepäckausgabe.
Es dauerte lange, bis er sie sah. Da war nur dieser schmale Spalt, durch den man in den Raum mit der Förderbandschleife sehen konnte, und er mußte warten, bis sie diesen Spalt passierte. Plötzlich stand sie da. Sah ihm genau ins Gesicht und bewegte sich nicht. Auch er sah ihr einfach in die Augen, und die Meter waren so unbedeutend wie die gelegentlichen Unterbrechungen ihres Blickes durch Passanten. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare, stoppte die Bewegung mittendrin, drehte sich dann langsam um und ging zum Förderband. Wenig später erschien sie in der Paßkontrolle mit einer großen Tasche über der Schulter. Jetzt waren es noch zwei Meter.
Sie standen lange eng umarmt und lauschten ihren eigenen Gefühlen. Giovanni spürte ihre Brüste durch die Collegejacke hindurch, und er spürte, wie sich ihr Unterleib fest an seinen preßte. Der Hügel über ihrem Schoß traf genau auf seine Erektion und blieb dort, wich weder zurück noch zur Seite. Sie roch nicht mehr wie früher und sah nicht wie früher aus, aber alles Fremde war hinzugekommen. Die Laura, die er kannte, war nicht durch eine andere ersetzt worden, sondern ergänzt. In ihrem jetzigen Geruch wohnte ihr früherer, in ihrem Gesicht das von einst, und ihr Gang war, auf den paar Metern, die er sie hatte gehen sehen, noch ganz genau derselbe. Ich denke, stellte er plötzlich fest, wieso denke ich? Er tastete sie gleichzeitig mit Gedanken ab, als reiche die Empfindung allein nicht hin, um zu erfassen, was im Augenblick geschah.
Am liebsten hätte er sie gleichzeitig an sich gepreßt und von sich gehalten, um zu sehen und zu fühlen auf einmal.
Irgendwann berührte sie seinen Hals mit ihren Lippen, und es durchfuhr ihn bis in die Schuhspitzen.
»Wenn du mich fragst«, sagte sie an seinem Ohr und löste sich langsam von ihm, »wenn du mich fragst, gehn wir in das nächste Hotel.«
Ohne sich anzufassen, ohne zu reden und ohne einander anzusehen, gingen sie zum Steigenberger am Flughafen. - Wie konnte man nur so im Traum und gleichzeitig bewußt sein?
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