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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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das war doch ein Grund, sich zu freuen. Und zu arbeiten.
    Leben konnte man nicht von den Honoraren eines Taschenbuchs, aber seine Mutter wollte das Haus verkaufen, und so konnte er mit einigem Geld rechnen. Genug, um eine Schriftstellerlehre zu finanzieren. Ich lebe nicht davon, dachte er, ich lebe dafür. Und notierte sich diesen Satz, um ihn dem Maler in seiner Geschichte in den Mund zu legen.
    Seit sie von Karens Weggang wußte, hatte sich der Tonfall in Lauras Briefen erneut geändert. Als lockere sie die Verbindung wieder, um ihn nicht eines Tages vor der Haustür zu haben, schrieb sie in schwesterlich-distanziertem Ton, wie in den ersten Zeiten ihres Briefwechsels.
    Er verstand die Botschaft und schlug niemals vor, nach Amerika zu kommen, obwohl er sich manchmal danach sehnte. Er fragte nichts in seinen Briefen, sondern versuchte zu berichten und beschreiben, was er dachte, sah und tat.
    Allein Bos Geschichte von der »toten« Katharina ergab einen zehnseitigen Brief, den zu schreiben sich Giovanni über eine Woche Zeit nahm.
    Wegen eines ausgefallenen Seminars war Bo damals zu früh in die gemeinsame Wohnung zurückgekehrt. Katharina kam ihm, nackt unter einem schnell übergezogenen Pullover, den er nicht kannte, auf der Treppe entgegen und sagte: »Geh nicht rein.«
    Er stürmte natürlich ins Schlafzimmer, fand dort den Mann, der sich hastig anzog, wobei er beschwichtigende Sätze stammelte. Bo wußte nicht, ob er über sich lachen oder der Verzweiflung, die in ihm aufkam, nachgeben sollte. Er gab nach, rannte aus der Wohnung und ließ sich nicht aufhalten. In einer Telefonzelle fand er sich, den Hörer in der Hand und die Stimme seines Bruders im Ohr. Er hatte sich die Geschichte nicht zurechtgelegt, hatte vielleicht mit dem Satz »Katharina ist tot« nur ausdrücken wollen, daß sie für ihn gestorben sei, aber an der erschütterten Reaktion seines Bruders entzündete sich die Lust am Fabulieren. Aus dem Stegreif entwickelte er die Geschichte, die er dann, auf seiner Reise kreuz und quer, jedem seiner und ihrer Freunde erzählen sollte. Nach dem Gespräch mit seinem Bruder setzte er sich in den Wagen und fuhr zu Karen und Giovanni. Er wußte, daß er nicht verrückt war, log mit vollem Bewußtsein und hatte doch das sichere Gefühl, daß diese Geschichte mächtiger sei als er selbst. Er war sich klar darüber, daß er jetzt nur lügen konnte, daß er alle seine Freunde verlieren würde und nicht einmal wußte, ob er sich nun an Katharina, an sich selbst oder sonst jemandem rächen wollte. Oder ob das ganze überhaupt eine Rache war.
    Er habe später noch viel darüber nachgedacht, erzählte er, habe sich gefragt, ob das Ganze ein Experiment gewesen sei, ein Test, aber was hätte er denn testen sollen? Ob er etwas fühlte? Ob jedes Erlebnis sich in eine andere Geschichte transponieren läßt? Ob sie wirklich sterben würde, wenn er diese Art Voodoo veranstaltete? Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß es zwingend gewesen war, sobald er die ersten Worte in den Telefonhörer gesprochen hatte. Daß die Lawine von diesem Zeitpunkt an rollte und bis zu Ende rollen mußte.
    Tatsächlich verzieh ihm keiner seiner Freunde, und von Katharina hatte er seither nichts gehört.

 
ZWEIUNDFÜNFZIG
    Aufwärts schoß die Raumfähre Challenger nur wenige Sekunden, dann in alle Richtungen. Abwärts fielen die Bomben auf Libyen, so wie die Bomben überall, und in alle Richtungen verteilte sich die Strahlung von Tschernobyl. Solidarität war längst kein Kommunistenwort mehr, sondern nur noch ein Wort unter vielen. Wie Fußgängerzone, Waldsterben, Wirtschaftsflüchtling, Schein-asylant, Obdachloser, Aids oder Fitneß. Als Begriffspaare allgemein anerkannt waren jetzt Fisch-wurmig oder bauch-oben, Chemie-Unfall, Fundi-Realo, Birne-Fallobst oder faulig und Umwelt-Schutz.
     
    Das zweite Buch hatte Giovanni Karen gewidmet und hoffte, sie wäre noch Buchhändlerin, wo immer sie auch hingezogen war. Ihre Adresse hatte sie nie geschickt. Also war sie noch nicht sicher.
    Bei einer Lesung in Frankfurt saß sie lächelnd in der ersten Reihe, und er verhaspelte sich andauernd.
    »Danke«, sagte sie nachher, als er endlich die wenigen Bücher, die ihm entgegengehalten wurden, signiert hatte. »Obwohl ich nicht weiß, ob ich mich verpetzt fühlen soll. Du verrätst ja so ziemlich alles, was wir getan haben.«
    »Weiß ja niemand«, sagte er verlegen.
    Er freute sich sehr, aber in ihrem Lächeln lag auch etwas Spöttisches, eine Drohung

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