Das Herz ist eine miese Gegend
freute sich sogar, und so stand Giovanni oft in der Nähe der Kamera oder bei dem Grüppchen um den Maskenbildner, den Requisiteur und die Aufnahmeleiterin und sah seinen Freund spielen. Es sollte ein Film ohne Worte werden, ein Stummfilm nur mit Geräuschen, und Bo spielte einen jungen Mann, der sich in ein Kind verliebt. Eine latent erotische Beziehung der beiden, die sich in Blicken, Gebärden und Bildern ausdrücken sollte, war die ganze Handlung. Giovanni glaubte, dabei könne nur zickige Pseudokunst herauskommen, aber er sagte nichts, denn Bo war begeistert von seiner ersten Filmrolle.
Das Beobachten dieser Arbeit gab ihm etwas wieder, dessen Fehlen er nicht einmal bemerkt hatte. Es war eine ähnliche Magie wie im Studio mit Stefan. Trotz Ausblick, Tageslicht und vieler Leute herrschte auch hier dieser Zauber des gemeinsamen Wunsches, diese Eroberungslust, die sich mit dem Bewußtsein mischte, daß alles immer an einem dünnen Faden hing. Eine Art Ergebenheit war zu spüren, ein Wissen um die Gnade der zufälligen Höchstleistung, eine gemeinsame Anspannung, wenn es darauf ankam, und gemeinsame Enttäuschung, wenn ausgerechnet bei der gelungensten Geste die Sonne hinter einer Wolke verschwand.
Es war die Ehre, die dem Unwiederholbaren erwiesen wurde, die alle Beteiligten verband. So sehr sie einander auch andernorts mit Distanz oder Antipathie begegnen mochten. Nach dem Drehen verlief sich denn auch die ohnehin sehr kleine Crew. Die technischen Mitarbeiter wie Maskenbildner, Requisiteur, Aufnahmeleiterin und Scriptgirl aßen in anderen Lokalen als Regisseur, Kameramann, Schauspieler und Regieassistentin.
Wenn er nicht bei den Dreharbeiten zusah, mischte sich Giovanni in Rethymnon unter die Touristen, genoß das quirlige Leben am Hafen und schrieb, wenn er Lust hatte, an seiner Geschichte weiter.
Auf dem Grab seines Vaters war noch kein Stein. Still und verwirrt stand Giovanni auf dem Friedhof und fühlte langsam die Erkenntnis kommen. Die Erkenntnis, daß er seinen Vater nie wieder sehen würde, daß der in keinem Himmel sei, nur einfach weg; verloren, verschwunden, vergangen. Aus der einen Ferne in die andere. Kein Freund mehr geworden, Giovanni hatte es nicht versucht, kein Verlust mehr, nur ein hohles, blasses, rauchiges, windiges, spirreliges, fragwürdiges Gefühl von Verrat. Ich habe mich nicht bemüht, ich schulde dir etwas, ich kann es nicht mehr bezahlen, es ist verjährt, ich habe mich nicht bemüht, jetzt bist du kein Mensch mehr, obwohl du noch im Juli einer warst.
Trauer, Schrecken und ein Gefühl, als entwiche alle Luft aus ihm, hatten Giovanni bei der Nachricht seiner Mutter überfallen. Eine Stunde oder zwei hielt diese Verzweiflung an, dann wurde sie schwächer und verschwand schließlich ganz.
Unverständnis stellte sich ein. Unverständnis darüber, daß sein Vater, den es doch gegeben hatte, nicht mehr da war. Unter die Erde verschwunden. Keine Trauer mehr, nur noch Unverständnis. Und der Gedanke, eines Tages werde ich sterben, und jemand anderes wird es nicht verstehen.
Die Unruhe, die Bo mit seinen Frauen in die Wohnung brachte, war eine Art Trost für Giovanni. Ein Schutz vor allzu langer Stille, die er nur, solange er schrieb, ertragen konnte. Er ertappte sich auch hin und wieder bei begehrlichen Blicken, die er auf Bos wechselnde Freundinnen richtete. Wenn sie sich ins Bett verzogen, ging er aus, um nicht auch noch mitanhören zu müssen, was er selbst entbehrte. Aber morgens im Flur erfreute und kitzelte ihn gelegentlich der Anblick einer aus dem Morgenmantel schauenden Brust, das nasse Haar einer wie selbstverständlich in der Küche rumorenden Frau, die er kaum oder gar nicht kannte.
Der fast vor seinen Augen stattfindenden Sinnenfreude bei gleichzeitiger Enthaltsamkeit verdankte er es wohl auch, daß seine Geschichte immer erotischer wurde. Eine Liebesgeschichte war sein Plan gewesen, aber daß sie bis in solche Ziselierungen vordringen würde, hatte er nicht erwartet. Was er schrieb, verstärkte noch den Mangel und wurde dadurch um so intensiver.
Die ersten hundert Manuskriptseiten schickte er dem Lektor und bekam als Antwort den fertig ausgefüllten Verlagsvertrag zugeschickt. Das machte ihn stolz, und er fühlte sich beflügelt. Zwar ähnelte sein jetziger Zustand in keiner Weise dem griechischen Schriftstellertraum, aber die Realität hielt auch ihre Komplimente für ihn bereit. Das erste Buch verkaufte sich gut, dem zweiten wurde schon vor der Fertigstellung vertraut,
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