Das Herz meines Feindes
vergangen waren, hatte sie gelernt, ihren Mann zu lieben und zu respektieren. Er war aufrichtig und unvoreingenommen; er war Orrick ein guter Herr. Und als Ehemann…
Lilliane zitterte, als sie an seinen furchtbaren Gesichtsaus druck dachte, als William sie in die Arme genommen hatte. Sie hatte so sehr gehofft, dass er sie mit der Zeit lieben wür de. Aber jetzt schien er sie zu hassen und hatte sie zur Gefan genen in ihrem eigenen Heim gemacht.
Doch selbst was das betraf, hatte er sie verwirrt. Sie war sicher gewesen, dass morgens noch immer ein Wachtposten vor ihrer Tür stehen würde, aber zu ihrer Überraschung war niemand da gewesen. Sie war vorsichtig die Treppe herabge stiegen, und jetzt spürte sie, obwohl ein paar Diener in der Halle arbeiteten, eine merkwürdige und düstere Stimmung, die über allem brütete. Aber was sollte man schon anderes erwarten, wenn die Herrin des Schlosses unter Arrest stand, dachte sie, und ihr Zorn kehrte zurück.
Doch was war seit Corbetts Ausbruch am Abend zuvor geschehen? Hatte er Elyse zusammen mit William fortge schickt? Oder hatte er in seiner Wut das arme Kind seines einzigen noch lebenden Elternteils beraubt?
Verdrossen, nervös und auch zornig stieg sie nun ganz in die Halle hinab. Obwohl die Diener sie sahen und sogar höf lich die Köpfe vor ihr verneigten, hielten sie bei der Erledigung ihrer Aufgaben nicht inne. Einen Augenblick lang wünschte Lilliane, sie könnte sie sonst ebenfalls dazu brin gen, so schnell und unter so wenig Geschwätz ihre Arbeit zu verrichten. Aber sie wusste auch, dass sie heute von Furcht angetrieben wurden. Sie fürchteten den Zorn ihres Herrn.
Lilliane runzelte vor Verärgerung die Stirn. Nun, sie hatte keine Furcht vor seinem Zorn. Oder zumindest war sie nicht so eing e schüchtert, dass sie vor ihm im Staub kriechen wür de, verbesserte sie sich.
Aber obwohl sie ihn in der großen Halle, dann in den Diensträumen des Schlosses und schließlich im Schlosshof suchte, war Corbett nirgends zu entdecken. Sie kochte vor Wut, als sie schließlich zu den Küchen hinüberging. Die ge samte Gruppe der Köche und Gehilfen sprang erschrocken auf, als sie plötzlich mit einem Ruck die Tür öffnete.
»Oh, Mylady…« Der Koch unterbrach sich verlegen. Dann raffte er sich auf. »Wollt ihr wissen, welche Gerichte heute geplant sind? Ich gestehe, dass ich mir die Freiheit ge nommen habe, selbst festz u legen, dass…«
»Zur Hölle mit den Gerichten! Sag mir nur einfach, wo er ist!«
Es entstand eine peinliche Pause, und einen Augenblick lang war Lilliane sicher, dass etwas Schreckliches geschehen war. Dann räusperte sich der Major Domus. »Er ist fort, My lady. Er wurde heute vor Anbruch des Morgengrauens aus dem Schloss geworfen.«
»Hinausgeworfen? Aus dem Schloss geworfen?« Lilliane starrte die schüchternen Gesichter vor sich an und fragte sich, ob sie dabei war, den Verstand zu verlieren. »Wie kann… Wer würde es wagen, den Lord of Orrick aus seinem ei genen Schloss zu werfen?«
»Oh, nicht Lord Corbett«, berichtigte der stattliche Diener. »Sir William ist es, der hinausgeworfen wurde.« Sofort stimmten alle ein, sie überboten sich plötzlich geradezu, um die Ehre zu haben, ihr zu berichten, was seit dem letzten Abend geschehen war.
Lilliane hörte kaum ein Wort. Sie war viel zu überrascht von der offensichtlichen Erleichterung, die alle verspürten, weil sie nicht William, sondern ihren Gatten gesucht hatte. Glaubten sie etwa alle, so wie Corbett, dass es William war, nach dem sie sich sehnte und um den sie sich sorgte?
Plötzlich fühlte sie sich sogar noch niedergeschl a gener als zuvor. Jedermann hielt sie für verdächtig, wie es schien. Es war belanglos, dass sie für William nichts empfand als eine schnell dahinschwi n dende Freundschaft, sie schienen sich nur an ihre kindische Seh n sucht, die schon so viele Jahre zu rücklag, zu erinnern.
Mit einem wütenden Klatschen ihrer Hände brachte Lilliane die schwatzende Gruppe zum Schweigen. »Also, Wil liam ist fort. Ist sein Kind mit ihm abgereist?«
»O nein, Mylady. Ferga sorgt für sie wie eh und je.«
Mehr wollte Lilliane nicht wissen. Als sie aus den Kü chenräumen hinauseilte, holte sie tief Atem; erst jetzt merkte sie, wie lange sie vor angstvoller Erwartung den Atem ange halten hatte. William war fort, und das Baby, Elyse, war noch da. Das war es, wonach sie sich die ganze Zeit gesehnt hatte, und sie verspürte eine wunderbare Erleichterung.
Aber was war mit
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