Das Herz meines Feindes
Corbett?
Lilliane blieb unter den kahlen Ästen der alten Kastanie stehen. Der Wind pfiff um die hohen Granitwände, die den Schlosshof umgaben, und sie zitterte und zog ihren kurzen Mantel enger um die Schultern. Sie war erstaunt und durcheinander.
Corbett hatte sie einer schrecklichen Tat verdäc h tigt, und doch hatte er sie nicht öffentlich angeklagt. Aber obwohl er es nicht offen bekannt hatte, fühlte sie seine Anklage deut lich. Jeder auch noch so niedrige Diener auf Orrick schien mehr über das zu wissen, was vor sich ging, als sie. Sie blick te sich noch einmal um, froh darüber, dass niemand in der Nähe war, der ihre verwirrenden Gedanken unterbrechen konnte. Und doch spürte sie noch immer, dass eine merk würdige Stimmung auf dem Schloss lastete, die sogar von den Wänden widerhallte.
Wenn sie nur wieder einen klaren Gedanken fassen könn te, grübelte sie. Dann sah sie über die geöffnete Pforte hin aus. Sie konnte in den Wald gehen. Niemand würde sie da von abhalten können, dem Weg durch die Wälder zu folgen, der zu einer Flussbiegung des Keene führte.
Genau das brauchte sie jetzt. Bei dem bloßen Gedanken fühlte sie sich gleich besser. Sie wünschte, sie hätte ihren lan gen Mantel umgelegt, aber durch das Laufen würde ihr bald warm werden.
Erleichtert stellte sie fest, dass niemand sie aufhielt, als sie durch das Tor schritt und die schmale Zugbrücke überquerte. Sie war überzeugt, dass in dem Augenblick, da sie die Stoppelfelder vor sich sah, die Sonne heller schien und die Luft frischer war als zuvor. Und so schritt sie mit mehr Ener gie, als sie seit Tagen empfunden hatte, über die Straße. Tat sächlich hatte sie halb erwartet, dass man ihr folgen und ihr befehlen würde zurückzukehren. Aber sie war entschlossen, einen solchen Befehl zu missachten. Immerhin, wer konnte ihr jetzt noch Befehle erteilen? Nur ihr Gatte, und der war nirgends zu sehen.
Wenn sie diese Tatsache als besorgniserregend empfand, so schob Lilliane den Gedanken daran entschlossen beiseite. Statt dessen atmete sie die kalte Dezemberluft tief ein, wun derte sich über die frechen Drosseln, die sich über die Ilexbü sche hermachten, und bewunderte wie jeden Winter die Kas kaden goldener, roter und brauner Blätter, die seit dem Herbst zu Boden gefallen waren. Die Natur war ein wunderbarer Kreislauf, überlegte sie, als sie die Wegbiegung pas sierte. Als sie bei drei riesigen Zedern angelangt war, bog sie in einen schmalen Pfad ein, der sich in ein Waldstück hinein schlängelte. Im Sommer wäre sie von dem dichten Wald aus hohen Eichen und Buchen verschluckt worden. Aber jetzt waren die Wälder kahl. Nur ein paar glänzende grüne Blät ter und leuchtende Beeren der niedrigeren Stechpalmen wa ren zwischen den kahlen, weißen Ästen der Buchen zu er kennen. Als sie weiterging, war das Rostrot ihres Kurzmantels durch die Bäume leicht zu erkennen.
Sie war in ihre Gedanken vertieft und versuchte ihre wi derstre i tenden Gefühle zu entwirren. In London war zwi schen ihr und Corbett alles so gut gelaufen. Bis zu jener letz ten Nacht dort. William war an jenem Tag angekommen.
Hatten er und Corbett vielleicht einen wie auch immer gear teten Streit miteinander? Corbett schien den Mann mehr zu verachten als je.
Durch das scharfe Knacken trockener Zweige wurde sie davon abgehalten, diesen Gedankengang weiterhin zu ver folgen. Erschr o cken wirbelte sie herum. Corbett saß auf sei nem schwarzen Lie b lingsross und starrte sie an.
Lilliane spürte eine Welle der Erleichterung, gefolgt von schnellen Selbstvorwürfen. Wie konnte sie nur so glücklich sein, ihn dort sitzen zu sehen, seine grauen Augen kalt und wachsam, sein Mund zu jener vertrauten, grimmigen Linie zusammengepresst? Und doch war sie glücklich, ihn zu sehen und zu wissen, dass er nach ihr gesucht hatte.
Sie hatte Angst, dass ihre Gefühle allzu offensich t lich für ihn waren und wandte bewusst den Blick auf den träge da hinfließenden Fluss. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, sie war sich des schnellen Pochens ihres Herzens und einer seltsamen Enge in ihrer Brust bewusst. Sie brauchte all ih re Entschlo s senheit, nicht zu ihm zurückzublicken, als er sein Pferd näher kommen ließ.
»Hast du schon wieder vor, die Flucht zu ergreifen?« Sei ne Worte waren kurz, ohne jede Betonung. Diese Gefühllo sigkeit schürte Lillianes Zorn.
»Damals war ich nicht mit dir verheiratet«, sagte sie und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Auch wenn du
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