Das Herz meines Feindes
sich zu befreien, aber er nahm nur ihr Kinn in die andere Hand und zog ihr Gesicht zu sich hinauf. »Du bist doch die Kleine von heute morgen?« fragte er. Dann wandte er sich Sir Dünn zu, ohne eine Antwort abzuwarten. »Sie kam in die Empfangshalle gestürmt, als Lord Barton und ich unseren Pakt besiegelten. Ganz schön kühn für eine einfache Dienstmagd, meinst du nicht auch?«
Die Blicke der beiden Männer trafen sich, und Lilliane wusste, dass irgendein stummes Einve r ständnis zwischen ih nen ausgetauscht wurde.
»Nun, ich werde dich also dir selbst überlassen.« Dünn zuckte die Achseln. »Aber denk daran, dass sie den Vorteil auf ihrer Seite hat. Sie weiß zweifellos genau, woher der Wind weht. Sie bewegt sich auf heimatlichem Boden.«
»Es ist jetzt auch mein Heimatboden«, erwiderte Sir Cor bett. Er lockerte seinen Griff um Lillianes Handgelenk und beobachtete, wie sie ans andere Ende des Raumes flüchtete. »Ich werde ebenfalls bald wissen, woher der Wind weht.«
Lilliane musste ihre Panik niederkämpfen, als der andere Ritter sie verließ. So verängstigt sie gewesen war, als sie un ter solch misslichen Umständen erwischt worden war, etwas in ihr fürchtete sich noch viel mehr davor, mit diesem gro ßen, stahlharten Krieger allein zu sein.
Nervös überlegte sie, sich ihm vorzustellen, dann hielt sie inne und fasste Mut. Er hielt sie für eine Dienstmagd? Nun, sie würde einfach mitspielen und schauen, wohin das führen mochte. Wie es schien, hatte er für ein hübsches Mädchen durchaus etwas übrig. Wenn er sich zu viel Freiheit bei ihr herau s nahm, dann konnte sie ihren Vater vielleicht davon überzeugen, dass der große Sir Corbett of Colchester auch nicht besser war als jeder gemeine, lüsterne Soldat. Ganz be stimmt war er es nicht wert, Herr auf Orrick zu sein!
Sie spähte durch halb herabgesenkte Augenlider zu ihm hinüber. Es würde nicht leicht sein. Er war ungewöhnlich groß und besaß muskulöse Arme und Schultern, die jedem Bewaffneten auf Orrick die Schamesröte ins Gesicht hätte treten lassen. Aber es war mehr als nur seine körperliche Stärke, die ihr Sorgen bereitete. Irgend etwas Gefährliches haftete ihm an. Sie konnte es nicht besser erklären. Sie wusste nur, dass es sicher nicht gut war, ihn zum Feind zu haben.
Doch sie waren schließlich immer noch Feinde, rief sie sich ins Gedächtnis. Vielleicht war ihm diese Tatsache nicht bewusst, aber ihr war sie das sehr wohl!
Und sie kämpfte schließlich um ihr nacktes Leben. Sie überdachte ihre Umstände und fasste einen Entschluss. Wenn sie ihn als unehrenhaften Mann entlarven konnte, würde ihr Vater das Verlöbnis auflösen müssen. Er wäre dazu gezwun gen!
Sie stand da, den Rücken gegen die raue Kal k steinwand gepresst. Sir Corbett war keinen Schritt näher an sie herangetreten, und doch hatte sie, als er seine rauchig-grauen Augen über sie hinweggleiten ließ, das Gefühl, dass er sie lang und ausgiebig berührte. Zu ihrer Bestürzung bemerkte sie, dass ihre Wangen sich röteten, und sie wünschte inniglich, dass er einfach in einer Ritze zwischen den Bodendielen verschwän de.
»Ob Diebin oder Spionin, du bist eindeutig ein erfreuli cher A n blick«, bemerkte er ruhig. Dann wandte er sich abrupt von ihr ab und durchquerte den Raum, um einen samtenen Vorhang von einem der hohen Fensterbögen fort zuziehen. Er spähte in das Licht des jetzt schon vorgerückten Nachmittages hinaus.
»Ich sollte keineswegs überrascht sein, dass die ›Herrin‹ dieses Schlosses nicht hier ist, um sich um ihren Gast zu kümmern.« Er schnaubte. Dann warf er ihr über seine breite Schulter hinweg ein teuflisches Lächeln zu. »Ich werde zu erst ein Bad nehmen, dann kannst du mein Gepäck aus packen. Diese beiden Aufgaben sollten deine Neugierde hinreichend befriedigen.«
Lilliane hätte ihm beinahe eine scharfe Antwort gegeben. Glaubte er tatsächlich, dass sie mehr tun würde als dafür zu sorgen, dass er bei seinem Bad alles zur Verfügung hatte, was er brauchte? Aber weise entschied sie, dass Vorsicht wohl die bessere Vorgehensweise war, zumindest zum gegenwärti gen Zeitpunkt. Trotzdem hatte er den rebellischen Blick ihrer wütenden, goldenen Augen gesehen, denn sein Grinsen wurde breiter. »Du bist ziemlich kühn für eine Diens t magd.«
»Wenn Ihr mit den Gepflogenheiten auf Orrick vertraut wäret, würdet Ihr wissen, dass ich keine bloße Dienstmagd bin«, antwortete sie, ohne verhindern zu können, dass ihre Stimme einen
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