Das Herz meines Feindes
gebrodelt. Er war ebenso schlimm, wie sie befürchtet hatte – nein sogar schlimmer! Er war arrogant, selbstsüchtig, und er besaß eindeutig kein Herz. Er wollte Orrick, nicht sie.
Nein, berichtigte sie sich. Er wollte sie, so wie er wahr scheinlich jedes hübsche Dienstmädchen wollte, das seinen Weg kreuzte. Aber mit Lilliane of Orrick hatte das nichts zu tun.
Wie sie ihn verachtete, schäumte sie, als sie eine schlanke hölzerne Haarnadel in das Gewebe des Bandes stieß, das die dicken kast a nienbraunen Locken ihres Haares hielt. Sie hatte das Bad, das man ihr bereitet hatte, überhaupt nicht genossen, tatsächlich hatte sie das warme, nach Rosen duftende Wasser kaum wahrgenommen. Nur ein Gedanke hatte sie verzehrt, und das war das Bedürfnis, diesen Heiden in die Schranken zu weisen. Er erwartete, dass seine Verlobte eine magere Jungfer und hässlich war – und hatte sein Augenmerk nur auf das außerordentlich attraktive Gut, das ihm durch die Heirat zufallen würde, gerichtet. Nun, sie freute sich darauf, ihn darüber aufzuklären.
Sie hatte sich entschlossen, zu ihrem ersten offiziellen Zu samme n treffen ihr hübschestes Gewand und ihren elegante sten Gürtel anzulegen. Immerhin, so überlegte sie boshaft, war es doch nur natürlich, dass eine Braut ihren zukünftigen Mann zu beeindrucken suchte. Doch jetzt, da es Zeit war, in die große Empfangshalle hinabzugehen, zögerte sie.
Nervös strich sie mit den Händen über den Rock und glättete eine imaginäre Falte, dann strich sie sich über das Haar. Sie fühlte sich elegant und bedeutend in dem vorneh men samtenen Gewand. Die aquam a rinblaue Seide war mit Goldfäden durchwirkt, und eine kompliziert gewebte Borte schmückte den Kragen und die eng zusammengebundenen Ärmel. Ein elegant mit Gold bestickter Gürtel aus rotgelber Seidenkordel betonte ihre schmale Taille und fiel in zwei langen Quasten fast bis auf den Boden herab. Mit ihrem Er scheinungsbild zufrieden, vergege n wärtigte sie sich noch einmal die Verfehlungen, mit denen sie ihn konfrontieren wollte.
Ihre einzige Hoffnung, sich selbst von dieser verhängnisvollen Heiratsvereinbarung zu befreien, bestand darin, ihren Vater davon zu überzeugen, dass Sir Corbett of Colchester kein geeigneter Herr für Orrick war. Sie würde ihm zeigen müssen, dass dieser Mann gemein und grausam war. Dass er von Habgier beseelt war und Orrick in den Ruin führen würde.
Sie holte tief Luft, dann neigte sie leicht den Kopf. Sie war sicher, dass ihr Vater ihr zustimmen würde, wenn er einmal Gelegenheit bekam, die Sache richtig zu überdenken. Er würde ihr einfach zustimmen müssen.
Lilliane spürte den Unterschied sogar schon, bevor sie die große Empfangshalle erreicht hatte. Die Ausgelassenheit vorangegangener Abende, seit die Gäste auf Orrick einge troffen waren, war verga n gen. Statt dessen herrschte jetzt ein gedämpftes Dröhnen im Saal. Die Menschen sprachen leiser und warfen dem Tisch am Kopfende immer wieder einen Blick zu. Als sie die unterste Stufe der steinernen Treppen erreicht hatte, wurde ihr schnell die Ursache be wusst: Dort saßen Seite an Seite ihr Vater und Sir Corbett und überblickten die sich schnell versa m melnde Menge unter ihnen.
Sie hatte zwar schon vermutet, dass die Menge bei ihrem Eintreten leiser würde, aber die Stille, die sich über die Halle senkte, als sie sich ihren Weg durch die Unzahl von Tischen bahnte, war wahrhaft verblü f fend. Wie eine Welle brandete sie ihr voraus, so dass in der Halle vollkommene Stille herrschte, noch bevor sie den erhöht stehenden Familien tisch erreichte. Selbst die Hunde, die auf der Suche nach ei nem Knochen oder einem Stück Fett zwischen den Tischen umherstrichen, schienen die Spannung zu spüren, die im ganzen Raum herrschte, und sich zurückzuziehen.
Zum Teil war Lilliane erfreut, dass ihr Eintreten solchen Eindruck machte, war es nicht gerade dieses Aufsehen, das sie sich für heute nacht erhofft hatte? Aber ein anderer Teil von ihr scheute das Spektakel, das heute ihretwegen ge macht wurde. Jeder wartete mit verhaltenem Atem darauf, dass die Verlobten einander vorgestellt wurden. Jeder wollte sehen, wie Lord Bartons eigenwillige Tochter auf den feind lichen Ritter reagierte, mit dem ihr Vater sie verhe i raten wollte.
Erwarteten sie etwa, dass sie ihn vor der versammelten Gesel l schaft ablehnen würde, fragte sie sich in wachsender Erregung. Oder genossen sie es, zu sehen, wie sie sich hatte einschüchtern lassen und nun
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