Das Herz meines Feindes
dem Willen ihres Vaters ge horchte? Und dem ihres Verlobten?
Obwohl sie unter dem Ansturm ihrer Gefühle erzitterte, beschloss sie, der neugierigen Menge kein Vergnügen dieser Art zu gönnen. Sie würde es nicht tun. Mit hoch erhobenem Haupt nahm sie ihre königlichste Haltung an, als sie ihren Weg durch die Halle fortsetzte.
Vor ihr erstreckte sich ein Meer aus Gesichtern, doch Lilliane blickte sie nicht an und hätte sie auch gar nicht erkannt. Ihr Blick wurde magisch von dem Mann angezogen, der ne ben ihrem Vater saß, und sie war unfähig, den Bann seiner dunklen Augen zu brechen. Sie wurde durch seine über raschte Miene und der eindeutigen Wer t schätzung in seinem Gesicht belohnt. Ihre Lippen verzogen sich sogar zu einem leichten, aber stolzen Lächeln. Aber das schwache Lächeln, das er erwiderte, verursachte ihr eindeutiges Unbehagen. Sie blieb vor dem Tisch stehen und war sich des Bebens tief in ihrem Innern bewusst, aber trotzdem konnte sie ihre Augen nicht von ihm abwenden.
Er sah unglaublich mächtig aus, wie er da am Tisch der Familie saß, als ob er jedes Recht hätte, einen solch ehrenvol len Platz an Orricks Tafel einzunehmen. Die stahlgraue Tu nika verlieh ihm die Pose des Unb e siegbaren und unterstrich die Intensität seiner rauchgrauen Augen. Sauber und frisiert, gekleidet in seinen elegantesten Staat, schien er wirklich der große Fürst zu sein. Und doch weigerte sich Lilliane, sich durch seine höfischen Gewänder hinters Licht führen zu las sen. Sie wusste, dass hinter der Fassade, die er zur Schau stell te, der Krieger lauerte. Vielleicht schien er heute der Ritter mit den höfischen Tugenden zu sein, aber erst vor kurzem hatte er sein wahres Ich enthüllt. Er war egoistisch und arro gant, ein harter, gefühlloser Mann, der sich für nichts und niemanden interessierte außer für sich selbst.
Erst als Lord Barton sich erhob und seinen schweren Kelch hob, war sie in der Lage, den Bann seines Blickes zu brechen. Aber der befriedigte Gesichtsausdruck ihres alten Vaters traf sie bis ins Mark. Er war wirklich glücklich über diese Verbi n dung, bemerkte sie, und alle Hoffnung schwand dahin. Seiner Einschätzung nach war dies das beste für Or rick.
Aber es war nicht das beste für Orrick, durchfuhr es Lil liane. Ganz sicher nicht! Und ganz bestimmt war es nicht das beste für sie.
»Lilliane«, begann ihr Vater und lächelte liebevoll auf sei ne älteste Tochter hinab. »Ich weiß, dass du ihn schon früher einmal kennen gelernt hast, Lily, aber jetzt möchte ich dir Sir Corbett of Colchester in aller Form vorstellen.« Er wandte sich dem großen, von Narben gezeichneten Ritter zu, der sich nun ebenfalls erhob. »Sir Corbett, ich stelle Euch meine Tochter vor, Lady Lilliane of Orrick.«
In der Empfangshalle herrschte vollkommene Stille, als sich die Verlobten einander zuwandten. Jedes Auge beob achtete sie, als Sir Corbett ihr den Becher entgegen hob. Jedes Ohr bemühte sich, seine Worte zu verstehen. Aber nur Lillia ne erkannte das sardonische Glitzern in seinen Augen und den sarkastischen Klang seiner Stimme, als er einen Toast auf seine Braut aussprach.
»Auf Lady Lilliane, das schönste… Mädchen in Winder mere Fold – nein, im ganzen Norden Englands. Ich möchte, dass alle Anwesenden mit uns auf unsere glückliche Verbin dung anstoßen.«
Jeder Arm erhob sich, um ihnen zuzuprosten, aber Lillia ne empfand keine Wärme angesichts dieser Geste. Es war ihr gelungen, ihn zu überraschen, sowohl durch ihr Erschei nungsbild als auch durch die Tatsache, dass sie die wenig entgegenkommende Magd war, die er kurz zuvor kennen ge lernt hatte. Aber dieser Erfolg schmeckte bitter, nun, da sie das Feuer in seinen Augen als das erkannte, was es war. Er war immer noch der Sieger in diesem Mach t kampf, denn nun würde er die unverschämte Magd, die sein Interesse ge weckt hatte, genau dort haben, wo er sie haben wollte: in sei nem Bett.
Mit grimmigem Gesichtsausdruck schritt sie die drei Stu fen empor und bahnte sich ihren Weg zu dem Stuhl mit der hohen Lehne, der ihr zugedacht war. Sir Corbett war äußerst galant, als er ihr den Stuhl zurechtrückte, aber sie wusste, dass er sie mit jeder Geste verspottete. Als er sich wieder neben sie setzte, entging ihr das gefährliche Glitzern in seinen Augen keineswegs.
»So treffen wir uns also wieder«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Und so bald schon. Ich hätte es für schwieriger gehalten, Euch wiederzufi n den.«
Als sie nicht antwortete,
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