Das Herz meines Feindes
ihre Bewegung sofort.
»Bleib, wo du bist, Weib! Wage es nicht, noch einmal an Flucht zu denken.«
Mit einer Handbewegung entließ er den Hirten. Lilliane stand nun seiner schlechten Laune allein gegenüber. Sie war auf das Schlimmste gefasst, auf seinen zornigen Ausbruch und sogar auf heftige Schläge. Aber als nichts von beidem kam, wagte sie es, ihm einen schnellen Blick zuzuwerfen.
Sir Corbett war nicht näher auf sie zugekommen. Er stand immer noch aufrecht da, seine muskulöse Gestalt wurde vom flackernden Licht der Lampe golden umrahmt. Aber statt des zornig funkelnden Blickes, den sie erwartet hatte, war sein Gesicht s ausdruck eher nachdenklich und abwä gend. Und voller Erwartung.
Ihr Puls ging schneller, als sie seines verwirrenden Blickes gewahr wurde, aber dann veränderte sich sein Gesichtsaus druck. Es war eine Täuschung des Lichts gewesen, sagte sie sich, als sie beobachtete, wie er die Schnauze seines großarti gen Schiachtrosses ein letztes Mal streichelte. Als er sich wie der zu ihr umwandte, war sein Gesicht nur noch eine starre Maske, und Lilliane wusste nicht, ob sie erleichtert sein oder noch größere Angst empfinden sollte. Aber als sie am ganzen Körper zitternd auf die Steinhütte des Schäfers zuging, war sie sich auf unbehagliche Weise jedes seiner Schritte hin ter ihr bewusst.
Die Hütte bestand nur aus einem Raum und war offen sichtlich das Heim eines unverheirateten Mannes. In einem kleinen Kamin brannte ein großzügiges Feuer, und Lilliane ging schnurstracks darauf zu. Als sie sich davor niederkniete und ihre gefrorenen Finger vor der willkommenen Wärme ausstreckte, blickte sie sich unbehaglich um. Nur ein einfa cher, viereckiger Tisch, ein Dreistuhl, eine Bank ohne Lehnen und eine alte hölzerne Truhe mit ausgeleierten Angeln standen in dem Raum. Aber die Hütte war einigermaßen sauber. Und es war warm.
Sie hörte, wie Sir Corbett die Tür verriegelte und erschrak, als er die schwere Truhe davor schob. Dann setzte er sich auf die Truhe, streckte seine langen Beine vor sich aus, lehnte sich gegen die Tür und betrachtete sie nachdenklich.
Lilliane gefiel das selbstgefällige Lächeln, das nun seine Lippen verzog, ganz und gar nicht, denn es lag keinerlei Wärme darin. Auch sein schier endloses Schweigen konnte sie kaum ertragen.
»Werdet Ihr jetzt Rache an mir nehmen, Sir Ritter?« fragte sie mit so viel Mut in der Stimme, wie sie aufbringen konnte. »Werdet Ihr mich bedrohen und anklagen und mich schla gen?« Mit einer hochmüt i gen Geste hob sie ihr Kinn, wobei sie sich vol l kommen bewusst war, dass ihr nasses und ver drecktes Äußeres ihre hochnäsige Pose wah r scheinlich ins Lächerliche zog. Aber sie war Lady Lilliane of Orrick, wie sie sich jetzt ins Gedächtnis rief. Die Tochter des edlen Lord Bar ton. Es ziemte sich nicht für sie, vor jemandem am Boden zu kriechen, egal, wie groß die Bedrohung war. Sir Corbett hat te sie in dieser Nacht einmal zum Weinen gebracht. Das würde ihm nicht noch einmal gelingen.
»Es ist unwahrscheinlich, dass grobe Worte oder sogar Schläge Euch zu einem gehorsamen Weib machen.« Er zuck te die Achseln, als ob es ohnehin unerheblich für ihn wäre, und Lillianes Augen weiteten sich vor Überraschung. »Ich suche keine Rache, sondern ein wärmendes Feuer«, fuhr er fort. Und mit diesen Worten zog er sich erst den einen Stie fel, dann den anderen aus. Seine durchnässte Tunika war als nächstes dran, und er breitete sie über der Bank zum Trock nen aus. Dann sah er sie an.
»Wenn Ihr glaubt, unsere Heirat verhindern zu können, indem Ihr Euch ein tödliches Fieber zuzieht, schwöre ich, dass auch das Euch nicht gelingen wird. Genau wie Eure an deren Pläne, mich an meinem Vorhaben zu hindern, vereitelt wurden. Jetzt legt Eure nassen Gewänder ab. Sofort!« fügte er hinzu, als sie ihm nicht auf der Stelle gehorchte.
»Das… das… ziemt sich nicht«, würgte Lilliane hervor und starrte ihn entsetzt an.
»Wir werden noch vor Ende dieses Tages verheiratet sein. Ich sehe nicht ein…«
»Nein!« schrie sie und erhob sich, um zitternd Stellung vor dem Herd zu beziehen. »Ob verlobt oder verheiratet, ist unerheblich. Ich würde diese nassen Gewänder bereitwil ligst abstreifen, wenn ich allein wäre. Aber ich werde es nicht tun, solange Ihr anwesend seid. Niemals!«
Sie wusste nicht, was er auf ihre Worte entgegnen würde, die seinen so sehr widersprachen. Aber die Entschlossenheit in seinem dunklen Blick, als er sich von seinem
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