Das Herz meines Feindes
umgegangen, dachte sie, als sie sich an seine Zärtlichkeit und an die Wärme seiner Liebkosungen erinnerte.
Aber all das war Lüge gewesen, rief sie sich unerbittlich ins Gedächtnis. Sie schlüpfte aus ihrem hohen Bett und durchschritt auf bloßen Füßen den Raum. Es war belanglos, was Corbett of Colchester jetzt tat, sie konnte den Mord an ihrem Vater nicht untätig hinne h men. Er hatte vielleicht nach dem Grundsatz ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ ge handelt, aber was er getan hatte, war schlichter Mord gewe sen.
Sie würde Sir Dünn und alle Gefolgsleute Co l chesters in den Kerker werfen. Dann würde sie das Schloss für die Rück kehr ihres Gatten wappnen. Orrick war hervorragend ausge stattet; sie konnten eine lange Zeit der Belagerung überstehen, wenn es sein musste.
Wenn nur Aldis bei ihr gewesen wäre, oder auch nur San ton, dachte sie verärgert. Aber zumindest William war da und würde sie unterstützen. Er verabscheute Corbett. Sicher lich würde er ihr bei diesem Plan helfen. Bei diesem Gedan ken war sie erleichtert und ging wieder zu ihrem Bett. In die sem Augenblick trat sie auf ihren Ehering, den sie zuvor weggeworfen hatte.
Sie keuchte vor Schmerz. Dann trat sie das widerwärtige Schmuckstück von sich. Erneut hörte sie es über den harten Boden rollen, bis es irgendwo unter dem Bett zur Ruhe kam.
Nur teilweise besänftigt, kletterte Lilliane auf die hohe Matratze zurück. In ihrem Zimmer war es kalt und dunkel, als sie dalag und sich nach dem Frieden des Schlafes sehnte. Ihr Vater war tot; ihr Gatte war ein Mörder. Sie war jetzt die jenige, die für die Sicherheit Orricks und der Menschen, die auf dem Schloss lebten, sorgen musste.
Der Gedanke erschreckte sie, und doch wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte. Sie wusste nicht, was die Zukunft ihr bringen würde: Wie sie Sir Dünn überwältigen sollte und wie sie Sir Corbett abwehren sollte.
Verzweifelt faltete sie die Hände. »Lieber Gott«, flüsterte sie in den dunklen, schweigenden Raum hinein. »Bitte hilf mir!«
12
Am fünften Tag nach Lord Bartons Beerdigung wurden Cor bett und seine Männer gesichtet. Innerhalb weniger Minuten wurden im Schloss tumultartige Vorbereitungen getroffen. Jedermann auf den Feldern und im Dorf, der zu Orrick ge hörte, eilte beim Ertönen der Alarmglocke sogleich herbei.
Lilliane rannte so schnell sie konnte zum Pförtne r haus. Im Süden des Dorfes konnte sie sehen, dass die Ritter noch min destens eine Wegstunde vom Schloss entfernt waren, doch sie hatte eine schrec k liche Vorahnung. Trotz der ganzen Pläne, die sie mit William zusammen geschmiedet hatte, fühlte sie sich auf diese Auseinande r setzung nicht vorbereitet. Corbett würde das nicht so leicht hinnehmen – das wusste sie. Er wür de jede ihm zur Verfügung stehende Waffe einsetzen, um Or rick zurückzuerobern. Aber was konnte er schon ausrichten, überlegte sie, als sie beobachtete, wie die Dorfbewohner den Hügel hinaufströmten, um sich in die schützenden Mauern des Schlosses zu flüchten. Der Rest seiner Ritter war sicher im Burgverlies im nördlichen Turm Orricks untergebracht.
Mit einem unangenehmen Schaudern erinnerte sie sich daran, wie zornig Sir Dünn gewesen war. Und er hatte trotz Williams Anklagen und ihrer scharfen Fragen unermüdlich seine Unschuld beteuert. Aber als er sie finster und grimmig angesehen hatte, war es ihr so vorgekommen, als ob er durchaus eines Mordes fähig wäre.
Sie erinnerte sich an seine Prophezeiung, dass sie Corbett niemals aus dem Schloss würden fernhalten können, und runzelte vor Sorge die Stirn. Auch William, der sich an den Zinnen zu ihr gesellte, konnte sie nicht beruhigen.
»Diesmal wird Sir Corbett übervorteilt«, prahlte William; ein Grinsen erhellte sein gutaussehendes glattes Gesicht.
»Ich würde mich nicht zu früh freuen«, murmelte Lilliane. Dann erspähte sie zwei Reiter, die das Dorf in hartem Ga lopp verließen.
»Guter Gott, wer reitet ihnen so weit voraus?« Sie keuch te, aber sie kannte die Antwort – in dem Augenblick, als sie die Frage stellte, kannte sie sie.
»Zieht die Brücke hoch! Schließt die Tore!« schrie Wil liam, dann spie er einen Strom gemeiner Flüche aus, denn auch er erkannte nun den stämmigen Ritter an der Spitze.
Lilliane konnte sich nicht bewegen, als sie be o bachtete, wie Corbett sich schnell näherte. Er war seinen Männern vorausgeritten. Aber warum? Hatte er erfahren, was sie plante? War er vorausgeritten, um sie zu
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