Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
weg. Veridon war in breiten Terrassen angelegt. Jede Ebene stieg höher über den Fluss an. Der Schein von Reibungslampen spiegelte sich in den Kanälen und Zierwasserfällen wider, die kreuz und quer durch Veridon verliefen. Die Stadt wirkte wie aus Kanälen und Alleen, winzigen Lichtern und großen Kuppeln gestrickt. Schwarze Linien kennzeichneten, wo sich der Ebd und die Dunje den Weg zwischen der Architektur bahnten, über vereinzelte Wasserfälle und Kontrollschleusen tiefer kletterten und sich schließlich in den gewaltigen Reine ergossen. Das Tosen des Bruchwalls wurde leiser. An seine Stelle traten das Heulen des peitschenden Winds und das Knarren der beschädigten Spieren in den Auftriebskammern über uns.
Die Pracht des Tages neigte sich nach vorn, ließ den Abgrund hinter sich und schwebte über den Fluss. Aus der Ferne ertönten Hupen. Ihre Klänge hallten die Hänge des Fackellichts herab in den Hafen darunter. Die Passagiere hinter mir jubelten … Dann brachen die Auftriebskammern in sich zusammen und fingen Feuer. Aus dem Jubel wurden Schreie nackter Angst. Ich drehte mich den Leuten zu, um zu sehen, ob es einen Ausweg gab.
Die meisten trugen immer noch ihre formelle Aufmachung, einige auch gewöhnliche Kleider. Alle starrten auf das Wasser unter uns hinab. Ihr Gebrüll hallte in meinem Kopf wider, entsprach dem Grauen meiner Träume, meiner Erinnerungen, den Schreien, die ich durch mein eigenes Schiff gespürt hatte, während ich darum kämpfte, in der Luft zu bleiben. Wieder war ich verloren und stürzte ab. Das Geschrei wurde verzweifelter, und ich öffnete die Augen.
Mehrere Leute waren über die Reling gesprungen. Hinter einer alten Dame wehte ein weißer Pelz her wie ein Banner, als sie fiel. Ein Mann drängte sich nach vorn, stieß andere beiseite, ohne sich darum zu kümmern, was danach aus ihnen wurde. Er ließ die Menge hinter sich und kniete sich über Marcus’ zerstörten Körper, fuhr mit den Händen über die Brust des Toten, ignorierte das Blut, ignorierte die Gedärme, über die seine Finger glitten. Offenbar suchte er nach etwas. Als er es nicht fand, ließ er den Blick auf sehr unmenschliche Weise über das Deck wandern, wie ein Insekt. Er stand auf, schenkte niemandem Beachtung und rannte zum Bug des Luftschiffs los. Im Vorbeilaufen sah er mich an. Unsere Blicke begegneten sich. Seine Miene war völlig ausdruckslos, verriet weder Furcht noch gefasste Ruhe. Einfach leer. Augen wie ein fahler Sommerhimmel, blau und doch fast weiß. Bevor ich ihn aufhalten konnte, war er an mir vorbei, erreichte den Bug und hechtete über den Rand wie ein Schwimmer. Er trug einen langen Umhang, der wie Flügel flatterte, als er über die Reling verschwand.
»Das war’s«, verkündete der Kapitän, wobei sich die Klappen des nächsten Sprechkanals kaum öffneten. »Das war’s.«
Die Pracht explodierte. Die Brenner brüllten, um sich ein letztes Mal am Himmel festzukrallen, die Auftriebskammern loderten grell und lösten sich auf. Vor uns befand sich der Reine, flach und schwarz. Wie eine Lawine raste er auf uns zu.
Ich schloss die Augen und wartete auf die Kälte.
Kapitel 2
DAS SOMMERMÄDCHEN
Ich halte an den alten Göttern fest. Meine Familie ist den Celesten treu geblieben, obwohl deren Anbetung bei der Elite der Stadt mittlerweile als verpönt gilt. Ich erinnere mich noch daran, wie sich mein Vater in meiner Kindheit zum heiligen Dom stahl, um der Sängerin oder der Hehren vor Sonnenaufgang seinen Respekt zu erweisen, bevor die Straßen vom gemeinen Volk und dessen neuem gemeinsamen Gott des Algorithmus bevölkert wurden. Inzwischen galt es geradezu als verboten, in den Domen der Celesten zu beten. Die Kirche des Algorithmus besaß solche Macht, solchen Einfluss. Letztlich versteckten meine Eltern ihre Ikonen der Celesten und hörten auf, das Risiko der frühmorgendlichen Dombesuche einzugehen. Stattdessen besuchten wir wie gute Veridaner die Kirche des Algorithmus. Nachts jedoch, hinter verschlossenen Türen, hielten wir insgeheim in unseren Herzen an den alten Göttern fest.
Nicht, dass ich viel von ihnen erwarte, weder in dieser Welt noch in der nächsten. Ich schlage mich aus eigener Kraft durch, mit meinen eigenen Händen. Und wenn ich sterbe, rechne ich mit einer langen, leeren Schwärze. Die Celesten berichten von keinem Leben nach dem Tod. Sie unterscheiden sich völlig vom Algorithmus mit seinem unendlichen Muster, seinen ewigen Berechnungen und den Unwägbarkeiten der
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