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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Briony, weit schwerer atmend, als der kurze Spurt rechtfertigte, an der Zeltecke, wo der Fackelschein schwach war. Sie hatte schreckliche Angst, aber keine Zeit, darüber nachzudenken: Sie tastete am unteren Rand des Zelts herum und stellte fest, dass unter dem Zelttuch, wie erhofft, Eisenstangen waren. Sie schlüpfte unter die schwere Zeltleinwand, glitt zwischen diese und die kalten Eisenstangen wie ein Bettwärmer zwischen Bettdecke und Matratze. Am anderen Ende des Zelts waren ein paar kleine Lichtpünktchen, doch ansonsten war es jenseits der Stangen dunkel, und es stank dermaßen nach ungewaschenen Körpern, dass Briony, die doch geraume Zeit unter Soldaten gelebt hatte, beinah wieder hinausgekrochen wäre, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden.
    Als ihr Atem und ihr stolperndes Herz sich beruhigten, hörte Briony ganz in der Nähe ein Geräusch: das leise Weinen einer Frau oder eines Kindes. Dann stockte ihr der Atem: Da war etwas, das klang wie ein Flüstern in ihrer Sprache. Was für Gefangene waren das hier? War das Zelt eine Art Bordell mit gefangenen Markenländerinnen? Kurz hatte sie die fiebrige Phantasie, hier auf den Autarchen zu warten und ihn zu erstechen, wenn er kam, um sich über ein weiteres Opfer herzumachen, aber sie wusste, noch während der Zorn in ihr lohte, dass es eine dumme, unsinnige Idee war — die Art Szene, die Nevin Kennit in betrunkenem Zustand geschrieben hätte.
    »Wer weint da?«, fragte sie leise. »Könnt Ihr mich verstehen?« Das Weinen hörte jäh auf.
    »Woher seid Ihr?«, fragte sie. Sie hatte sich schon verraten, konnte nicht mehr zurück. Wenn es nur nicht so verdammt dunkel wäre? Sie hatte keine Ahnung, wie dieses Gefangenenzelt angelegt war — war es ein großer Käfig? Oder waren da viele einzelne Zellen unter dieser gespenstischen Zelthülle? »Warum antwortet mir niemand?«
    »Angst«, sagte ein Stimmchen irgendwo in der Nähe. »Will heim.«
    »Wie heißt du?«, fragte sie. »Warum bist du hier?«
    »Männer sind gekommen. Wir haben nichts Böses gemacht. Sind einfach ins Dorf gekommen und haben uns mitgenommen.«
    »Aus welchem Dorf haben sie dich mitgenommen?«
    »Mama?«, sagte eine andere Stimme, die nicht viel älter klang. »Bist du da? Holst du uns hier raus?«
    Heilige Zoria! Warum hatte der Autarch brenländische Kinder geraubt? »Und ihr seid alle Gefangene?« Es presste ihr das Herz zusammen. »Sind hier irgendwelche Erwachsenen? Ein älterer Mann?« Wüssten sie, wer ihr Vater war? »Ein König?«
    »Kein König«, sagte das erste Stimmchen, wieder unter Tränen. »Nur wir Kinder.«
    Ehe sie weiterfragen konnte, flammte plötzlich auf der anderen Seite des Zelts helles Licht auf: Jemand hatte die Zeltklappe beiseitegeschlagen und stand jetzt mit einer brennenden Fackel in der Öffnung. Briony duckte sich. Weitere Fackeln, weitere Silhouetten — dann blendete das Licht so, dass sie wegschauen musste. Briony traute sich nicht zu atmen, bis sie Stimmen hörte und das Scheppern einer Gittertür, die am anderen Ende der riesigen Konstruktion geöffnet und geschlossen wurde. Die Fackeln zogen sich zurück, die Klappe fiel zu und im Zelt war es wieder stockdunkel. Konnte es sein, dass die Wachen
sie
suchten?
    »Kann mir sonst jemand sagen, warum ihr gefangen seid oder ob der König der Markenlande auch hier ist?«
    Als keine Antwort kam, bewegte sich Briony langsam um den großen Käfig herum, immer noch zwischen Gitterstangen und Zelt. Sie musste an einem Eingang vorbei, aber zum Glück war die Klappe geschlossen, und so wie die Stimmen der Wachen draußen klangen, blickte keiner von ihnen auf das Zelt, das sie bewachten. Endlich erreichte sie die Stelle, wo sie die Fackeln gesehen haben musste — den Haupteingang —, blieb aber kurz davor stehen.
    Sie holte Luft — Zögern war sinnlos, außerdem konnten die Wachen jeden Moment zurückkommen. »Hallo? Wer ist da? Hört mich jemand?«
    Die Stimme ging ihr durch und durch. »Was ...? Meriel?«
    »Zoria sei Dank! Vater, bist du's?« Sie drückte sich so eng an die Gitterstäbe, wie es nur ging. Mit Mühe schaffte sie es, nicht laut zu rufen. »Vater? Ich bin's! Oh, die Götter sind gütig! Vater!«
    Plötzlich fühlte
sie
seine Gegenwart. Seine Hand kam durchs Gitter, fand ihr tränenfeuchtes Gesicht. »Bei allen Göttern ...! Briony? Bist du's wirklich?« Olins Stimme war heiser, aber es war unverkennbar seine. »Das ist ja ein unglaubliches Wunder! Ich war im Halbschlaf ... ich dachte ... deine Stimme,

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