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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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für Kinder
    Ein paar Dutzend Flüchtlinge aus dem äußeren Befestigungsring hausten jetzt im Treppenhaus zum Anglin-Saal, das Fresken mit Szenen aus den Connorischen Bergen und dem Leben des ersten Königs zierten. Die Leute, die sich auf der Treppe drängten, interessierten die Wandmalereien so wenig wie die Tatsache, dass Kettelsmit vorbei wollte.
    Es ärgerte ihn, dass er über sie hinwegsteigen musste, aber er ließ es sich nicht anmerken. Einige Männer betrachteten angelegentlich seine guten Kleider, überlegten zweifellos, was sie wohl auf einem der improvisierten Märkte draußen vor dem Palast dafür bekämen. Natürlich war es schockierend, in der Residenz des Königs daraufhin taxiert zu werden, ob man ein lohnendes Raubopfer wäre, aber dies waren nun mal keine normalen Zeiten.
    Eine der Frauen langte empor und befingerte seinen Ärmel. »Oh, ein Hübscher in hübschen Kleidern, hm?« Kettelsmit zog seinen Arm schnell weg.
    Einer der Männer bemerkte seine nervöse Hast. »He, belästigst du meine Frau?« Der Mann machte Anstalten aufzustehen. Ein paar Stufen weiter rückte ein anderer Mann erst recht in Kettelsmits Weg. »Hast du gehört? Ich hab dich gefragt ...«
    Er schlug den schärfsten Ton an, dessen er fähig war. »Wenn Ihr mich berührt, werdet Ihr's bitter bereuen. Ich bin in Hendon Tollys Auftrag unterwegs. Wollt Ihr Euch mit einem Mann des Reichshüters anlegen?«
    Der Kerl ein paar Stufen höher wechselte mit dem anderen einen Blick und rückte wieder in Richtung Wand.
    »Selbst seine Hochwohlgeboren kann nicht ewig machen, was er will«, sagte der erste Mann, doch auch er war bereits auf dem Rückzug. Kettelsmit wusste den murrenden Ton dieser Leute zu deuten: Sie hatten immer noch Angst vor Tolly, aber seine Macht über sie bröckelte. Der äußere Befestigungsring war bereits zur Hälfte von den Kanonen des Autarchen in Trümmer gelegt, und der Reichshüter hatte kaum einen Finger gerührt, um etwas gegen die Angreifer zu unternehmen.
    Kettelsmit ging so schnell die Treppe hinauf, wie er sich irgend traute: Es galt ja andererseits zu demonstrieren, dass er sich für sicher hielt. In Zeiten, wie sie jetzt über Südmark hereingebrochen waren, sinnierte er, verwandelten sich die Menschen nach und nach in etwas anderes — etwas Primitiveres, das verängstigt und wütend genug war, um zu töten.
    Hendon Tolly stand an den schmalen Fenstern des Gemachs und blickte auf die elende kleine Stadt hinab, die die einstige Palastwiese und den gesamten inneren Zwinger bis zum Fuß des Wolfszahnturmes bedeckte; wenn der Sockel des großen Turmes nicht voller bewaffneter Soldaten wäre, dachte Kettelsmit, hätten die Flüchtlinge sich auch dort einquartiert.
    »Ah, da ist ja mein Lieblingsdichter«, sagte Tolly, ohne sich umzudrehen, als ob er sehen könnte, was hinter ihm war. »Ein langweiliger Nachmittag war das bisher. Übermorgen ist, wie du weißt, Mittsommer. Trag mir etwas Poesie vor.«
    »Was ... was meint Ihr, Herr?« Kettelsmit verscheuchte eine Fliege; selbst für einen Sommertag schienen ungewöhnlich viele im Raum.
    »Bei den verflixten rachsüchtigen Göttern, Narr, du bist der Verseschmied, nicht ich. Wenn du nicht weißt, was Poesie ist, dann fürchte ich für diese Kunst.«
    »Aber ich habe Neuigkeiten, Herr ...«
    Endlich drehte Tolly sich um. Er war so blass wie ein ersoffener Regenwurm, um seine tief eingesunkenen Augen lagen blaue Schatten, und seine schöne, hohe Stirn war schweißbedeckt. Seine Kleidung und sein Haar waren so derangiert, dass man hätte glauben können, der geckenhafte Tolly wäre gerade der Menschenmenge entronnen, die Kettelsmit auf der Treppe angepöbelt hatte. Aber das Beunruhigendste waren seine Augen. Etwas Hermetisches blitzte und glomm darin — ein ungeheuerliches Geheimnis vielleicht oder ein großer, hintergründiger Witz, den von allen Lebewesen nur Tolly verstand.
    Der Reichshüter beugte sich leicht nach vorn, als ob er sich verneigte. Das Schwert war so schnell in seiner Hand, dass Kettelsmit die Bewegung gar nicht sah, ehe die Spitze bereits eine Handbreit vor seiner Brust zitterte. »Ich will keine Neuigkeiten ... noch nicht«, sagte Tolly prononciert. »Ich möchte Verse. Also sprich, Dichter, oder ich werde dir dein eigenes Herz darreichen.«
»... Denn wenn dereinst die Ohren dein
Hörn Musik so himmlisch rein«,
    rezitierte Kettelsmit aufs Geratewohl ein paar von Kennits Knittelversen:
»Wie sie weder Gott noch Mann
Jemals sonst vernehmen

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