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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Gesicht, dieses geliebte, vertraute alte Gesicht. »Tu ich — zumindest werde ich mir Mühe ...«
    »Nein. Versprich es!« Sie hielt seine Hände fest. »Geh nicht, ohne es zu versprechen! Sag, dass du heil zurückkommst!«
    Er sah sie an und fühlte wieder, was er schon so oft gefühlt hatte — dass sie etwas Wichtiges von ihm wollte, er aber nicht verstand, was es war, und sie es ihm nicht erklären konnte. »Ich versprech's«, sagte er schließlich. »Ich werde heil wieder nach Hause kommen.«
    »Gut.« Sie ließ seine Hände los und wischte sich mit dem Ärmel grob über die Augen. »Dann geh jetzt. Wir schaffen das hier. Wir sind Funderlingsfrauen — wir kriegen es hin.«
    »Ich weiß.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Lippen. »Der Junge sollte hier bei dir bleiben. Ich will da draußen nicht immer ein Auge auf ihn haben müssen. Zu viele Quergänge, zu viele Stellen, wo man abstürzen kann.«
    Sie nickte. »Gut. Dann geh jetzt, bevor ich wieder anfange zu heulen.«
    Seiner Fracht von Sprengpulverzutaten ledig, hüpfte der Wagen bei jedem Stein auf dem kurvigen Weg zu den Sturmsteinstraßen, und mit ihm hüpfte auch Chert. Er überlegte, dass es wahrscheinlich angenehmer wäre, wie die anderen zu Fuß zu gehen und eine leere Schubkarre zu schieben, aber irgendjemand musste dafür sorgen, dass die Esel den Wagen nicht in einen Abgrund kippten.
    Wo sind die anderen jetzt?,
fragte er sich besorgt.
Vansen, Zinnober, sie alle — leben sie noch? Kämpfen sie jetzt gerade dort unten um ihr Leben?
Seine Erlebnisse im Labyrinth und am Meer der Tiefe waren die ganze Zeit irgendwo in seinem Hinterkopf, eine bange Vorahnung, die sich nicht abschütteln ließ, wie ein unheilverkündender Traum.
Wie soll ich überhaupt erfahren, ob sie wollen, dass ich den Plan durchführe? Ich könnte wohl mit Salpeters Sprengpulver eine Nachricht hinunterschicken und darauf warten, dass sie auf dem gleichen Weg eine zurückschicken.
    Aber wenn sie nun nicht antworteten? Wenn sie es nicht konnten? Wer würde dann die Entscheidung fällen? Doch nicht er selbst! Seinem Adoptivsohn durch die Mysterien hinterherzujagen, war schon schlimm genug gewesen, aber das hier war eine Verantwortung, die wohl selbst die Alten der Erde schrecken würde.

    Ferras Vansen konnte nicht mal mehr spekulieren, welcher Tag war. Die Zeit war nur noch eine verwischte Aneinanderreihung von Stunden, die sich kaum unterschieden. Es mochten vielleicht noch drei Tage bis Mittsommerabend sein, aber Vansen wusste es nicht und war viel zu beschäftigt damit, sein Leben zu verteidigen, um es herauszufinden.
    Der Tempel der Metamorphosebrüder war jetzt nur noch eine ferne Erinnerung, weit hinter und über ihnen: Die überlegene Streitmacht des Autarchen hatte sie die gewundenen Gänge zwischen den Fünf Bögen und der Höhle der Winde hinabgetrieben, dann aus der gewaltigen Höhle hinaus und bis zum Beginn des dunklen Labyrinths, dem Ort, wohin die Funderlinge ihre Initianden brachten.
    Vansens Truppen hatten das Vorrücken des Autarchen beträchtlich verlangsamt, aber sie zahlten weiterhin einen hohen Preis: Die Funderlinge hatten schon zu Beginn, als sie in die Gänge bei den Fünf Bögen marschiert waren, keine zweitausend Mann gezählt, jetzt aber waren sie nicht einmal mehr eintausend und hatten im Zurückweichen ihre Toten in den Seitengängen aufeinandergestapelt — zu viele Gefallene, um ihnen mehr als nur einen oberflächlichen Totensegen zukommen zu lassen.
    Es war der schrecklichste Kampf, den Vansen je erlebt hatte; seine zwergwüchsigen Verteidiger, hungrig, erschöpft und glitschig von Schweiß, mussten stundenlang neben den unbestatteten Körpern ihrer Freunde und Verwandten kämpfen. Doch das Schlimmste war, genau zu wissen, dass ihr Ende bereits besiegelt war. So heroisch dieser Verteidigungskampf auch sein mochte, er konnte nur mit ihrer aller Tod enden, und was dann kam, würde womöglich für die Überlebenden — ihre Familien und Nachbarn — noch schlimmer sein.
    Trotz seiner Erschöpfung war es Vansen nahezu unmöglich zu schlafen. Seine Gedanken drehten sich unablässig um diesen Krieg; er lag weit länger wach als seine Kameraden und suchte nach unmöglichen Mitteln und Wegen, da er bereits wusste, dass die möglichen allesamt keine Überlebenschance boten. Wenn es ihm dann gelang, in einen leichten, unruhigen Schlaf zu fallen, schreckte er von dem Gefühl wieder hoch, dass aller Stein der Welt auf ihn herabstürzte.
    Es ging

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